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Judentum in Russland Antisemitische Äusserungen: «Wer ein Nazi ist, bestimmt Putin»

Diese Woche hat der russische Aussenminister Sergei Lawrow mit antisemitischen Äusserungen für Empörung gesorgt. Hitler habe wie der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski jüdisches Blut gehabt und überhaupt seien – Zitat – «die grössten Antisemiten oft selber Juden».

Hinter diesen Äusserungen steht die russische Erzählung von der angeblichen «Entnazifizierung» der Ukraine, mit der der Kreml seinen Angriffskrieg rechtfertigt.

Pavel Lokshin

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Pavel Lokshin arbeitet als Russland-Korrespondent für die «Welt». Zuvor war der gebürtige Petersburger freier Journalist für Auftraggeber wie «Der Spiegel», «Spiegel Online», «Zeit Online».

SRF: Wie kommen solche Äusserungen in Russland an?

Pavel Lokshin: Es kommt darauf an, wen man fragt. Wenn man ohnehin auf Kreml-Linie ist, sieht man darin bestimmt kein Problem. Man bekommt schon seit Jahren eingetrichtert, dass es in der Ukraine Nazis gibt, auch jüdische Nazis. Für Menschen, die der russischen Propaganda seit Jahren ausgesetzt sind, wäre das nichts Neues. Wenn man das politische Handeln des Kremls kritisch sieht, hat man daran viel auszusetzen.

Man bekommt schon seit Jahren eingetrichtert, dass es in der Ukraine Nazis gibt, auch jüdische Nazis.

Welche Rolle spielt Antisemitismus im heutigen Russland?

Es gibt durchaus Antisemitismus in Russland. Wahrscheinlich weniger als zu Sowjet-Zeiten, wo Antisemitismus gewissermassen Staatsdoktrin war und Israel auch als Staat nicht anerkannt war. Als politische Ressource wird der Antisemitismus weniger eingesetzt als in anderen Ländern in Europa – aber das kann sich jederzeit ändern. Der jüngste Vorstoss von Lawrow ist ein guter Beleg dafür.

Wer treibt das voran – sind das Randgruppen oder Akteure im Zentrum der Gesellschaft?

Es sind auch durchaus Menschen, die in der Nähe der Macht stehen. Da ist zum Beispiel die orthodoxe Kirche, die immer wieder für antisemitische Skandale sorgt. Wenn man sich die Umfragen anschaut und mit Soziologen spricht, sind es in Russland bei weitem nicht nur sozial randständige Menschen, die solche Ansichten haben.

Gleichzeitig ist das Judentum in Russland und Osteuropa tief verwurzelt. Ist das in der russischen Gesellschaft noch spürbar?

Tief verwurzelt – oder tief entwurzelt. Historisch mit Sicherheit verwurzelt, aber vergessen wir nicht das 20. Jahrhundert und was es für das europäische und osteuropäische Judentum bedeutete. Da war nicht nur der Holocaust, sondern auch die Kampagnen der Sowjetunion, die jede Art von Religion ausmerzen sollten – auch jüdische Religion. Das jüdische Leben in Russland ist momentan zum grossen Teil areligiös. Sie begreifen sich eher als eine Art Abstammungsgemeinschaft.

Und doch sind wir wieder an diesem Punkt, da diese antisemitischen Schlagworte international aufs politische Parkett kommen?

Wir sind nicht neu an diesem Punkt, wir sind leider schon lange an diesem Punkt. In den meisten europäischen Gesellschaften gibt es signifikante Bevölkerungsanteile, die mehr oder weniger offen antisemitisch sind. Laut Befragungen antworten 20 Prozent der Leute in Russland auf die soziale Distanz-Frage, wie nahe ihnen ein Jude kommen soll, dass die jüdische Bevölkerung eigentlich nicht in Russland leben sollte – und wenn doch, dann nur zeitweise.

In den meisten europäischen Gesellschaften gibt es signifikante Bevölkerungsanteile, die mehr oder weniger offen antisemitisch sind.

Welche Folgen hat das für die Haltung der Russinnen und Russen zum Krieg in der Ukraine?

Das hilft natürlich, den Krieg zu verkaufen. Dass sich Russland als die Macht präsentiert, die antifaschistisch ist, und wenn das aus der Sicht des Kreml heisst, dass Juden auch antisemitisch sein können, dann sei's drum.

Wer der Nazi ist, das bestimmt am Ende Putin.

Das heisst, es hat gar keine inhaltliche Qualität mehr?

Das ist absolut losgelöst von irgendeiner Realität. Die Bedeutung des Wortes bestimmt der Kreml in seinem Diskurs. Und wer der Nazi ist, das bestimmt am Ende Putin. Das kann jeder sein.

Das Gespräch führte Christina Scheidegger.

Echo der Zeit; 7.5.22; 18 Uhr ; 

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