Das Thema Auswandern ist in Bosnien sprichwörtlich in aller Munde. Unter den Jungen gibt es kaum jemanden, der es sich nicht schon überlegt hat. Und wenn Freunde über Politik und Wirtschaft reden, gipfelt die Diskussion fast immer in der Frage, ob es überhaupt noch einen Sinn hat, zu bleiben.
In den letzten Jahren ist die Zahl der Auswanderer stark angestiegen auf rund 40'000 Menschen jährlich. Bei einer Gesamtbevölkerung von rund 3,5 Millionen ist das ein bedenklicher Wert. Es gehen insbesondere junge Leute und solche mit guter Ausbildung.
«Was uns vor allem Sorgen macht, ist, dass 60 Prozent der Leute, die gegangen sind, das Land nicht allein verlassen haben, sondern mit der ganzen Familie, mit Frau und Kindern. Vor fünf bis zehn Jahren, gingen die Männer noch allein und vorerst einmal befristet», sagt Katarina Vučković von der Jugendorganisation KULT in Sarajevo. Sie hat vor kurzem eine Studie über die Auswanderung veröffentlicht. «Es gibt heute Gegenden in Bosnien, von wo es mehr regelmässige Busverbindungen nach Deutschland gibt als in die Hauptstadt Sarajevo.»
Noch viel mehr Junge wollen gehen
Marijana Breza-Balta hat zwei Ausbildungen. Sie spricht perfekt Englisch, ist Übersetzerin und arbeitet im Moment als Krankenschwester. Für sie ist der Fall klar: Sie will so bald wie möglich mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern auswandern.
Wenn es nicht so schwierig wäre eine Arbeits- und Aufenthalts-Bewilligung zu bekommen, würde zumindest die Hälfte der Leute hier gehen.
Am ehesten sieht sie Chancen in einem Spital in Deutschland. Sie hat sich auch zur Green-Card-Lotterie in den USA angemeldet. Die kanadischen Behörden dagegen haben ihren Antrag abgelehnt. «Wenn es nicht so schwierig wäre, eine Arbeits- und Aufenthalts-Bewilligung zu bekommen, würde zumindest die Hälfte der Leute hier gehen», meint Breza-Balta.
Bosniens Wirtschaft steckt in einer tiefen Krise
Die Wirtschaft Bosnien-Herzegowinas hat sich auch ein Vierteljahrhundert nach dem Krieg noch nicht erholt. Der Systemwechsel vom selbstverwalteten jugoslawischen Sozialismus zur freien Marktwirtschaft ist schiefgelaufen. Die nationalistischen Parteien der drei ehemaligen Kriegsgegner haben ihre jeweiligen Einflussgebiete mit einem korrupten Machtfilz überzogen.
Die Industrie Bosnien-Herzegowinas wurde mit fragwürdigen Privatisierungen zerstört.
«Mit fragwürdigen Privatisierungen sind die grossen Betriebe fast alle ruiniert worden. Die Industrie Bosnien-Herzegowinas ist zerstört», erklärt Ivana Korajlić von Transparency International. Staatliche Funktionäre und zwielichtige private Investoren hätten sich gemeinsam daran bereichert, dass Unternehmen ausgehöhlt und in den Konkurs getrieben wurden. Ebenso seien Steuern und Sozialversicherungs-Beiträge unterschlagen worden. Die Korruption sei systematisch – und die Justiz schaue tatenlos zu. Schätzungsweise wurden so Zehntausende Arbeitsplätze vernichtet.
Es ist heute sehr schwierig, in Bosnien eine Stelle zu finden, von der man leben kann. Es gibt weniger Arbeitnehmer als Arbeitslose und Rentner zusammen. Diese Zustände sind auf Dauer nicht haltbar. Der Staat muss sich immer mehr verschulden.
Nicht nur das wirtschaftliche Elend treibt die Jungen in die Flucht
Mehr als einen Hungerlohn gibt es in Bosnien nur beim Staat oder bei staatlich kontrollierten Infrastruktur-Unternehmen. Über diese Arbeitsplätze herrschen die nationalistischen Parteien, die das Land mit ihrem korrupten Machtfilz überzogen haben. Sie entscheiden darüber, wer eingestellt wird. Gleichzeitig sagen sie auch, welche privaten Unternehmen in den Genuss staatlicher Aufträge kommen.
Auf diese Weise haben sie ein weitverzweigtes Netz von Abhängigkeiten aufgebaut. Wer eine öffentliche Stelle oder einen staatlichen Auftrag bekommt, wird mitsamt seinem ganzen Familienkreis zum treuen Wähler. Denn jeder weiss, dass die Stellen neu verteilt würden, wenn es zum Machtwechsel käme. Und dann ginge es um die Existenz der Familie.
Ich will aus eigenem Verdienst beruflichen Erfolg haben, nicht weil ich zu dieser oder jener Partei oder Familie gehöre.
Die Übersetzerin und Krankenschwester Breza-Balta widert diese entwürdigende Abhängigkeit an und so wie ihr geht es zahllosen anderen Jungen. «Ich will aus eigenem Verdienst beruflichen Erfolg haben, nicht weil ich zu dieser oder jener Partei oder Familie gehöre», sagt sie. «Ich will nicht, dass meine Kinder in dieser korrupten Umgebung aufwachsen. Und in einem Bildungssystem, das versucht das kritische Denken vorsorglich zu unterbinden.»
Die drei Herren der Destabilisierung
Auch in der Politik ist alles festgefahren
Dieses Jahr im Herbst stehen Wahlen an. Nur wenige in der Bevölkerung hoffen, dass sich dann etwas ändert. Die einen Wähler hat die politische Elite mit staatlichen Stellen und Aufträgen abhängig gemacht, den anderen jagt sie Angst vor einem neuen Krieg zwischen den Bevölkerungsgruppen ein.
Der Soziologe und Psychologe Srdjan Puhalo erklärt, wie dieses Spiel mit der Angst funktioniert: «Wenn Sie Angst haben vor dem Krieg, dann ist es ganz normal, dass Sie sich hinter jenem Politiker scharen, von dem Sie denken, dass er Sie am besten verteidigt. Bei den drei Bevölkerungsgruppen, die sich im Krieg gegenüberstanden, hat sich je ein Parteiführer den Ruf aufgebaut, der grösste Bosniake, Serbe bzw. Kroate zu sein», sagt Puhalo. «Sie provozieren sich gegenseitig mit nationalistischer Hass- und Kriegs-Rhetorik, spielen sich die Bälle zu im Wissen, dass sie alle davon profitieren.»
Wegen der ständigen Provokationen ist die bosnische Politik mittlerweile weitgehend blockiert. Es werden kaum noch Probleme gelöst und Gesetze beschlossen. Mehrere Institutionen sind gar nicht mehr beschlussfähig und wegen eines Streits um das Wahlgesetz ist nicht mal sicher, ob die Wahlen im Herbst rechtmässig stattfinden können.
Ich glaube den bosnischen Politkern nicht, dass sie es mit einem zukünftigen EU-Beitritt ernst meinen.
Auch mit der EU spielten Bosniens Politiker ein Doppelspiel, sagt Puhalo. Sie versprächen baldige Beitrittsverhandlungen, spielten aber offensichtlich auf Zeit. Will Bosnien der EU beitreten, muss es ein Rechtsstaat werden. In einem Rechtsstaat aber würden die jetzt Regierenden ihre Macht verlieren und vielleicht sogar im Gefängnis landen. «Ich glaube ihnen nicht, dass sie es mit dem zukünftigen EU-Beitritt ernst meinen», sagt Puhalo.
Die ständige Angst vor einem neuen Krieg und die leeren EU-Versprechen tragen stark dazu bei, dass Bosniens Bevölkerung keine Perspektiven mehr sieht und das Land verlässt.
In Spitälern und Schulen sind die Folgen schon zu spüren
Die renommierte Zeitung «Oslobodjenje» hat im Januar Alarm geschlagen. Weil immer mehr junge Mediziner das Land verliessen, herrsche in gewissen Gegenden bereits ein merkbarer Ärzte-Mangel. In der Hauptstadt Sarajevo gebe es beispielsweise zu wenig Kinderärzte. Bei den Medizinern sei auch eine Überalterung festzustellen. Die Ärztekammer der Föderation Bosnien-Herzegowina sagt, dass aus ihrem Gebiet, das gut die Hälfte des Territoriums ausmacht, jeden Tag ein Arzt auswandert.
Auch an Mittel- und Hochschulen wird das Abwandern der Jungen langsam zum Problem. Klassenschliessungen sind keine Seltenheit mehr und an Hochschulen bleiben viele Studienplätze unbesetzt. «Eine spürbare Zahl von Schülern bricht das Studium mitten in der Ausbildung ab», sagt Elmedin Muratbegović, Kriminalistik-Professor an der Universität Sarajevo. «Nicht selten muss ich gerade mit den besten meiner Studenten reden und versuchen, sie vom Gehen abzuhalten.»
Es sei ein Problem für die Zukunft Bosniens, wenn gerade jene Leute das Land verlassen, die dafür ausgebildet werden, die Korruption zu bekämpfen und einen Rechtsstaat aufzubauen.
Den zynischen Politikern kommt die Abwanderung gelegen
In Bosnien wird konstant über die Auswanderung diskutiert, die Politik übernimmt aber nichts dagegen. Seit Jahren schauen die Behörden einfach zu. Dragan Bursać schreibt für das kritische Internet-Portal «Buka». Er glaubt, dass die Abwanderung den Politikern ganz gelegen kommt. «Es gehen erstens die Gutgebildeten, also jene Leute, die der Regierung am ehesten gefährlich werden könnten. Zweitens gehen die Jungen, die Familien gründen und für Nachwuchs sorgen könnten. Je kleiner aber die Bevölkerungszahl wird, desto weniger muss der Staat ausgeben für Schulen und Spitäler. Weniger Bürger heisst weniger Verpflichtungen», sagt Bursać.
Weniger Bürger heisst weniger Verpflichtungen.
Zu dieser zynischen Rechnung passt auch die Tatsache, dass die Ausgewanderten früher oder später Geld an die Zurückgebliebenen schicken werden. Die Bosnier im Ausland überweisen schon heute jedes Jahr Beträge in die Heimat, die 10-15 Prozent der Wirtschaftsleistung Bosniens ausmachen. Auch das nimmt paradoxerweise Druck weg von einer korrupten politischen Elite, die für den traurigen Zustand ihres Landes verantwortlich ist.