Zum Inhalt springen

Juristische Klagen in Paris Hat Frankreichs Ex-Regierung in der Pandemie zu wenig getan?

Die französische Regierung soll am Anfang der Pandemie zu wenig getan oder ungenügend reagiert haben. So lauten juristische Klagen gegen frühere Regierungsmitglieder, auch gegen den früheren Regierungschef Édouard Philippe. Ein Gericht in Paris ermittelt derzeit, was an diesen Vorwürfen dran ist. Rudolf Balmer, SRF-Mitarbeiter in Paris, erklärt.

Rudolf Balmer

Freier Journalist

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Der Journalist Rudolf Balmer berichtet für deutschsprachige Medien aus Paris über französische Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Darunter auch für SRF.

SRF News: Was wird der französischen Regierung vorgeworfen?

Rudolf Balmer: Es geht um mehrere Vorwürfe, zunächst einmal um die Schutzmasken. Frankreich hatte die Lagerbestände drastisch vermindert. Vor ein paar Jahren gab es noch 100 Millionen Schutzmasken. Und als dann die Pandemie ausbrach, waren die Lagerbestände praktisch leer. Dann geht es aber auch darum, dass die Regierung die Krisenzelle, die für Katastrophenfälle eigentlich vorgesehen ist, erst im März aktiviert hat, also viele Wochen, nachdem in Frankreich bereits die ersten Fälle festgestellt wurden. Das wird der Regierung und ihrem damaligen Chef Édouard Philippe als unterlassene Hilfeleistung ausgelegt.

Von wem kommen diese Vorwürfe?

Die Klagen kommen von Vereinigungen von Opfern, auch unter anderem aus Kreisen des Pflegepersonals, das ganz speziell exponiert war. Es gab in den ersten Monaten der Pandemie schon Hunderte Menschen, die sagten, sie würden Klagen einreichen. Man weiss nicht, was in jedem Fall davon geblieben ist. In Frankreich ist es ja nicht möglich, Sammelklagen einzureichen.

Philippe wurde bereits befragt

Box aufklappen Box zuklappen

Eigentlich hätte am Montag der frühere Regierungschef Édouard Philippe befragt werden sollen. Doch Philippe hat dem Gericht bereits letzte Woche Auskunft gegeben, von der Öffentlichkeit unbeachtet, wie am Wochenende bekannt wurde. Nach dieser Befragung gilt Philippe jetzt neu nur noch als Zeuge, kann dann später aber immer noch angeklagt werden.

Wie kommt es, dass so viele Französinnen und Franzosen Édouard Philippe eine Schuld zuschreiben?

Vielleicht ist das ein bisschen typisch französisch, weil hier der Staat für alles verantwortlich gemacht wird. Man erwartet die Hilfe vom Staat, und wenn die nicht kommt oder ungenügend ausfällt, dann ist auch die Kritik sehr scharf. Sie richtet sich dann gegen die Regierung, der eine mangelnde Antizipation vorgeworfen wird. Und häufig werden dann auch entsprechend harte Sanktionen verlangt. Das ist in Frankreich sehr üblich und erklärt wahrscheinlich auch, dass es jetzt zu diesen juristischen Folgen kommt.

Eine Frau mit Maske vor dem Eiffelturm
Legende: Typisch französisch? «Man erwartet die Hilfe vom Staat, und wenn die nicht kommt oder ungenügend ausfällt, dann ist auch die Kritik sehr scharf», sagt Rudolf Balmer, SRF-Mitarbeiter in Paris. Archiv/Keystone/EPA/Mohammed Badra

Ist es wirklich möglich, dass ein Premierminister auch juristisch belangt werden könnte für seine Politik?

In Frankreich ist das im Recht so vorgesehen. Es gibt eine spezielle Gerichtsinstanz, die «Cour de la Justice de la République». Sie ist zuständig für eventuelle Vergehen oder Verbrechen von Regierungsmitgliedern während ihrer Amtszeit. Diese Prozeduren kommen allerdings sehr selten sehr weit. Oft dauert auch schon die Untersuchung sehr lange. Es gibt aber immerhin vielleicht einen Präzedenzfall, der uns hier interessieren kann. Da geht es um die mit Aids verseuchten Blutkonserven. Die Prozedur gegen mehrere Regierungsmitglieder hat am Ende aber zu Freisprüchen geführt. 1999 wurden der ehemalige Premierminister Fabius und seine Minister in China definitiv freigesprochen.

Das Gespräch führte Nicolas Malzacher.

SRF4 News, 24.10.2022, 06:07 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel