Ori Melamed, 52, versteht die Welt nicht mehr. Der verheiratete Restaurantbesitzer in Tel Aviv hat sieben Kinder und eine grosse Verwandtschaft. «Meine ganze Familie ist bei den Demonstrationen, meine Freunde vom Kibbutz, vom Militär, alle!» Melamed war früher ein Linker, wurde dann, wie er sagt, zuerst ein Rechter und dann religiös. Sein Zuhause ist trotzdem noch das links-liberale Zentrum von Tel Aviv.
Sein Umfeld habe sich mit seinem Gesinnungswandel abgefunden. Jetzt nicht mehr: weil er auf der Seite von Premier Netanjahus rechtsnationaler, religiöser Regierung stehe, welche, so befürchten die Demonstrierenden, Frauen- und LGBTQ-Rechte einschränken wolle. «Meine Schwester hat eine Partnerin. Diese redet nicht mehr mit mir. Ich verstehe das nicht, aus menschlicher Sicht.»
Jeden Samstagabend legten die Demonstrationen alles lahm, sagt der Restaurantbesitzer. Er habe deswegen siebzig Prozent weniger Arbeit. «Das ist gravierend!» Ori versteht vor allem nicht, warum ausgerechnet die Leute auf die Strasse gehen, welche seiner Meinung nach die Elite im Land sind.
«Wir haben einen Staat, in dem eine Gruppe der Bevölkerung alle höheren Ämter an den Universitäten, in den Medien, der Armee, an den Gerichten und der Staatsanwaltschaft vollkommen kontrolliert. Und diese Leute protestieren! So etwas habe ich noch nie gesehen. Ich möchte ja nicht vergleichen, aber: Es ist, wie wenn in Südafrika die Weissen demonstriert hätten!»
Schlaflose Nächte aus Angst vor Faschismus
Als Elite empfindet sich der bald 70-jährige Dani Rahamim nicht. Der pensionierte Landwirt lebt im Kibbutz Nahal Oz, an der Grenze zum Gazastreifen. In den letzten Monaten fürchtet der Friedensaktivist die Raketen militanter Palästinenser, welche den Kibbutz regelmässig bedrohen, weniger als seine Regierung.
«Mein Land hat sich radikal verändert. Es bewegt sich in eine faschistische Richtung. Es gibt Nächte, da kann ich nicht schlafen, weil ich deswegen Alpträume habe.» Rahamim befürchtet, dass alle, die nicht ins Weltbild dieser Regierung passen, Rechte verlieren werden.
«Ich habe eine Tochter, die ihre Partnerin geheiratet hat. Diese hat ein vierjähriges Kind, und meine Tochter musste sich vor Gericht das Recht erkämpfen, ebenfalls als Mutter dieses Kindes anerkannt zu werden. Diese Regierung wird ihr dieses Recht vielleicht wieder aberkennen. Das macht mir Angst.» Für die Rechtsnationalen und Religiösen, welche jetzt die Regierung stellen, sei er zudem zu wenig jüdisch, sagt Rahamim. «Weil ich als weltlicher Jude nicht so lebe wie sie.»
Wie definiert sich ein «jüdischer und demokratischer» Staat?
Demokratie, nationale Identität, haben die Linken oder die Rechten mehr Macht im Staat? Darüber streitet man sich auch anderswo. Im globalen Kontext ist der Aufruhr um die Justizreform in Israel nicht aussergewöhnlich. Aussergewöhnlich seien jedoch Israels Widersprüche als Nationalstaat, sagt der israelisch-arabische Politologe Wadi Abunasser, ein Christ.
«Wir wissen auch nach 75 Jahren nicht, wer ein Israeli ist. Seit der Staatsgründung lebt Israel in ständigen Widersprüchen. Ist es eine Demokratie? Dann müsste es für alle seine Bürgerinnen und Bürger eine sein. Israel ist eine Demokratie für die Juden. Aber: Wer ist ein Jude, eine Jüdin? Gibt es eine klare Definition? Oftmals ist es einfach jemand, der kein Araber ist.»
Selbst Premier Netanjahus Regierung beschäftigt sich mit der Frage, wer jüdisch ist: Sie will die Einwanderung begrenzen, indem sie den Begriff «jüdische Wurzeln» enger fasst als bisher. Weil wegen des Ukraine-Krieges Zehntausende Ukrainerinnen und Russen, gestützt auf ihre jüdischen Wurzeln, nach Israel kamen.
Israel: eine Demokratie – oder doch nicht?
Ist Israel eine Demokratie? Demokratischer als andere Staaten im Nahen Osten, aber keine Demokratie nach westlichem Verständnis, sagt Selim Brek, Politologie-Professor an der Universität Tel Aviv – er gehört der religiösen Minderheit der Drusen an, welche loyal in Israels Armee und Staatsapparat dienen.
«Israel ist eine Besatzungsmacht. Mit einer Besatzermentalität kann man nicht demokratisch sein. Wir sehen jeden Tag, wie Israel die Palästinenser behandelt. Und: Bis 1967 stellte Israel selbst israelische Araber unter Militärrecht. Erst danach bekamen sie mehr Rechte. Aber Israel ist in erster Linie ein jüdischer Staat: dieser beschränkt die politische Beteiligung der Araber.»
Wer ist jüdisch, wer ist jüdischer?
Diese Frage war schon bei der Staatsgründung kontrovers: Auf der einen Seite die eher weltlichen Zionisten, welche sich für einen jüdischen Staat einsetzten. Auf der anderen Seite die Haredim, die strenggläubigen Juden. Unter ihnen eine kleine Minderheit, welche die Zionisten aus religiösen Gründen ablehnte.
Auch nach 75 Jahren: Der Zwiespalt weltlich oder religiös ist geblieben. Ebenso der kulturelle Graben. Zehn Millionen Menschen unterschiedlichster Herkunft leben heute in Israel. Anfänglich waren die Juden und Jüdinnen aus Europa, die Aschkenasim, die dominierende Elite und in der Mehrheit. Die spanisch-stämmige sephardische Bevölkerung und die Mizrahi-Juden aus arabischen Ländern kamen später und mussten sich erst ihren Platz erkämpfen. Inzwischen haben die Mizrahim die Aschkenasim zahlenmässig überholt. Das hat politische Auswirkungen.
Der Politologie-Professor Selim Brek sagt: «Im Allgemeinen glauben Juden aus arabischen Ländern nicht an Demokratie: Sie halten sie nicht für etwas Gutes. Sie sind sich Regime gewöhnt, wo es Könige gibt. Nun nennen sie Netanjahu ‹König Bibi›, weil sie ihn für einen solchen halten.»
Benjamin Netanjahu ist zwar Aschkenase – aber: Er hat sich zum Helden vieler Mizrahim gemacht, indem er ihre Ressentiments gegenüber der aschkenasischen, europäischen Elite geschickt für seine Politik genutzt hat. Die Juden aus arabischen Ländern stellen inzwischen die Mehrheit der lokalen Amtsträger, und in Netanjahus Kabinett sind sie gut vertreten: Mizrahi-Jude ist unter anderem auch der extrem rechte Minister Itamar Ben-Gvir. Zwei Parteien der strenggläubigen Juden gehören ebenfalls zu Netanjahus Koalition. Diese stellen allerdings keine Minister. Trotzdem macht ihr Einfluss besonders den nicht-religiösen Jüdinnen Angst.
Ich will keinen Staat, in dem Frauen wieder hinten im Bus Platz nehmen müssen!
Amit Nachmany, 44, demonstriert zwei- bis dreimal pro Woche. Die zweifache Mutter hat vier Jahre Militärdienst geleistet, zwei Jahre länger als obligatorisch. Sie war Kommandantin, schulte Soldaten auf Waffensystemen.
«Ich wuchs mit meinen beiden Schwestern im Kibbutz auf, ich habe die Traktor-Prüfung, ich war Seglerin, habe einen super Job in der Armee gemacht: Ich kann alles, was Männer auch können. Ich will keinen Staat, in dem Frauen wieder hinten im Bus Platz nehmen müssen!»
Sie spielt dabei auf die strikte Geschlechtertrennung der Ultraorthodoxen an. « Ich betrachte mich als jüdische Person, und ich bin stolz, Jüdin zu sein. Ich begehe jüdische Feiertage, aber ich bin nicht religiös.»
Nachmany gehört der Organisation «Brothers and Sisters in Arms» an. Diese besteht aus rund siebzigtausend Veteranen und Reservistinnen der israelischen Streitkräfte. Sie ist eine treibende Kraft hinter den Demonstrationen im ganzen Land und organisiert diese generalstabsmässig.
Yiftach Golov, 39, der offizielle Sprecher für internationale Medien von «Brothers and Sisters in Arms», erklärt: «Die Situation ist absurd: in Israel müssen Männer und Frauen Militärdienst leisten, um unser Land mit seinen demokratischen und liberalen Werten zu verteidigen. Nun greift die Regierung diese Werte an, welche in der Unabhängigkeitserklärung festgehalten sind, und damit auch seine Volksarmee.»
«Sie nennen uns Verräter und haben selbst nicht gedient»
Mit ihrem Angriff auf demokratische Werte zerreisse diese Regierung den heiligen Vertrag zwischen ihr und der Milizarmee: So sieht Yiftach Golov den Versuch der Regierung, mit ihrer Justizreform der rechten und religiösen Mehrheit im Land mehr Macht zu geben. Golov sagt, er habe während des zweiten Palästinenseraufstandes, der zweiten Intifada, in einer Elite-Einheit gedient. Viele seiner Freunde seien dort umgekommen. Er habe sich bei seinen Spezialeinsätzen eine Rückenverletzung zugezogen.
«Ich bin ein behinderter Veteran, und in dieser Regierung sitzen Männer, welche den Armeedienst aus religiösen Gründen verweigert haben oder als verurteilte Kriminelle keinen Armeedienst leisten durften.»
Eine Anspielung auf Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir, der wegen seiner Mitgliedschaft in einer rechtsextremen, terroristischen Gruppierung verurteilt und deswegen vom Militärdienst ausgeschlossen wurde.
«Und ausgerechnet diese Leute nennen uns Dienstverweigerer und Verräter», sagt Golov. «Als Volksarmee setzen wir deshalb alle unsere Fähigkeiten zur Verteidigung der Demokratie ein», sagt der Kriegsveteran.
Dass die Demonstrationen nun schon mehr als fünf Monate dauern, damit hätte niemand gerechnet. Amit Nachmany sehnt sich nach weniger turbulenten Zeiten. «Es ist nicht normal, dass eine 44-jährige, zweifache Mutter dreimal pro Woche demonstrieren muss. Ich wünschte mir, alles würde wieder normal und die Leute würden aufhören zu streiten.»
«Ich will einen Ort, wo man mich als Jude nicht umbringt»
Streiten: das ist das Erfolgsrezept des rechtskonservativen Moderators Erel Segal – morgens um 11 Uhr am Talk-Radio Sender 103 FM in Tel Aviv. Der Talkmaster mit Dreitagebart, Baseballmütze und Jeansjacke streitet mit seinem linken Co-Moderator David Verthaim und mit Gästen am Telefon über die Spaltung der israelischen Gesellschaft durch die Justizreform.
Nach der Sendung sagt er: «Ich bin Jude, der Kipa oder Hut trägt. Ich definiere mich als orthodoxer Jude. Wenn die Linken kommen und sagen, wir sind Israelis, wir wollen das Judentum nicht, es interessiert uns nicht, obwohl in der Unabhängigkeitserklärung ‹jüdischer Staat› steht, dann bedeutet das: Sie machen sich zu Kolonisatoren – wie die ‹Pieds-noirs›, die europäischen Siedler früher in Algerien. Die hat man aus Algiers rausgeworfen. Aber mich kann man hier nicht rauswerfen. Weil ich nicht hierhergekommen bin, um die beste Demokratie aller Zeiten aufzubauen. Ich suche nur einen Ort, wo man mich nicht umbringt, weil ich Jude bin. Und weil ich glaube, dass mir Gott dieses Land gegeben hat.»
Über die Justizreform sagt der israelische Talkmaster: Sie stärke die Rechte der Mehrheit. «Es geht nicht um die Justiz. Das ist Blödsinn. Es ist eine Diskussion um Identität, um Status. Es ist eine Diskussion zwischen zwei Seiten, die sich sehr nahe stehen. Schliesslich brachte Kain Abel um. Seinen Bruder. Streit innerhalb der Familie tut immer am meisten weh. Schau, wie die Linken mit uns sprechen! Sie nennen uns ‹Göbbels›, ‹Nazis›!»
«Was nervt die anderen so an dieser Regierung? Dass sie ihre Vorherrschaft angreift! Und von wegen Demokratie! Es war Ben-Gurion, der mit einem Militärregime über die arabische Bevölkerung herrschte – die Linke! Also sollen sie nicht kommen und uns Demokratie lehren!», sagt Segal.
«Die weltlichen Juden werden diesen Kampf verlieren»
Die Justizreform habe grundsätzliche Fragen in der israelischen Gesellschaft offengelegt, sagt die ultra-orthodoxe Akademikerin Nechumi Yaffe. «Die Leute wachen auf und stellen sich die heikle Frage: Was ist die richtige Balance zwischen ‹jüdisch› und ‹demokratisch›? Sie sind daran, die Grenzen eines jüdisch-demokratischen Staates auszuloten. Und keine Seite will von ihrer Position abrücken.»
Die Vorstellung, die Ultra-Orthodoxen seien anti-demokratisch, ist für Yaffe ein Klischee. Sie hat an der Hebrew University in Jerusalem in Politikwissenschaften doktoriert – als erste Haredi-Frau, und forscht über die Ultra-Orthodoxen.
«Siebzig Prozent der Haredim sagen in Umfragen, sie wollten einen demokratischen Staat, und nicht einen Staat, in dem nur die Halacha, also jüdisches Recht, gilt.» Ebenso wenig wollten weltliche Jüdinnen und Juden ganz aufs Religiöse verzichten, sagt Yaffe.
Bei den Strenggläubigen sei ausserdem ein vorsichtiger Wandel im Gang: Weg von der Ablehnung der modernen Welt hin zu Universitätsausbildungen und sogar zur Arbeit im Technologiesektor – ohne dabei ihre religiöse Identität zu verlieren. Auf beiden Seiten ist es ein Ringen um Israels nationale Seele.
«Es ist ein Ringen um die unfassbare Wirklichkeit dessen, was es heisst, jüdisch zu sein und Macht und Souveränität zu haben. 2000 Jahre lang wurden wir von anderen beherrscht – jetzt sind wir ein unabhängiges Volk. Das ist eine neue Erfahrung, und als Nation sind wir auf der Suche, wie wir uns definieren wollen.»
Lösungen finden statt recht haben
Die ultra-orthodoxe Forscherin warnt: «Wenn es nicht darum geht, recht zu haben, sondern Lösungen zu finden, dann gibt es Lösungen. Wenn es die Weltlichen mit den Religiösen aufnehmen, dann werden sie diesen Kampf verlieren.»
Nur schon demografisch sind die Strenggläubigen im Vorteil: Sie haben viel mehr Kinder als Nicht-Religiöse. Aber die strenggläubigen Jüdinnen und Juden seien sich seit 2000 Jahren gewöhnt, für ihre Identität zu kämpfen. Yaffe geht davon aus, dass sich Israel verändern wird.
«Ich denke, Israel wird etwas religiöser werden. Wir werden uns ein klein wenig an unsere Umgebung anpassen. Unsere Nachbarländer sind religiös und sehr traditionell. Aber wir müssen daran denken, dass religiöse Länder wie Marokko und der Irak früher sehr tolerant waren. Sie waren nicht so fundamentalistisch wie wir den Islam heute sehen. Ein religiöser Staat muss nicht unbedingt fundamentalistisch sein.»
Die ultraorthodoxe Nechumi Yaffe fügt noch an: Schliesslich habe Gott den Jüdinnen und Juden Israel gegeben. Gott einfach aufzugeben sei daher keine Option für den jüdischen Staat.