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Barbara Lüthi / SRF
Legende: Tong und seine Cousins haben zahlreichen Menschen in Marawi zur Flucht verholfen. SRF

Kämpfe auf den Philippinen Die Helden von Marawi

Marawi ist eine belagerte Stadt. Islamisten haben Stadtteile erobert, Christen erschossen und Geiseln genommen. Die Regierung versucht, die Stadt zurückzuerobern. Dazwischen gibt es einige, die versuchen zu helfen. SRF-Korrespondentin Barbara Lüthi hat drei von ihnen getroffen.

Der Retter: Saripada Lucman Pacasum Jr. – nennt sich Tong

«Suicide Squad» steht an der Eingangstüre zu dem Büro. Ich schaue den jungen Mann, der am Pult sitzt, fragend an. Tong lacht. Tong heisst eigentlich Saripada Lucman Pacasum Jr. «Suicide Squad schien uns der einzig passende Name zu sein, für das, was wir tun. Wir riskieren unser Leben, um andere Menschen zu retten.» Tong und seine Cousins fuhren mit Privatautos in die besetzte Stadt Marawi, um Zivilisten heraus zu holen, als Islamisten gerade die Stadt erobert hatten.

Im normalen Leben führt Tong ein kleines Geschäft. Nebenbei ist er freiwilliger Helfer beim Büro für Naturkatastrophen-Management.

Als am 23. Mai die IS-treuen Rebellen in die Stadt einfielen, versteckten sich die Menschen in ihren Häusern. In Panik riefen viele die einzige Nummer an, die ihnen in den Sinn kam – die des lokalen Katastrophen-Büros. Tong und seine Cousins beschlossen zu helfen.

Die Islamisten versuchen Hass zu säen, einen Keil zwischen die Christen und die Muslime dieser Stadt zu treiben.
Autor: Tong Helfer in Marawi

«Als wir unsere Anlage zum ersten Mal verliessen, hat mein Fuss das Gaspedal nicht gedrückt. Ich war erstarrt vor Angst und dachte an meine Familie, vor allem an meine Kinder. Doch diese Menschen in der Stadt sind auch Verwandte und Freunde. Sie brauchten unsere Hilfe. Es war das einzig Richtige.»

Tong, seine Cousins und weitere Helfer fuhren an feindlichen Scharfschützen vorbei. Einer der freiwilligen Helfer wurde von den Islamisten gefangen genommen und erschossen.

«Die Islamisten versuchen Hass zu säen, einen Keil zwischen die Christen und die Muslime dieser Stadt zu treiben. Dabei leben wir hier Seite an Seite seit Jahrzehnten. Viele Muslime haben ihren christlichen Brüdern geholfen, aus der Stadt zu flüchten», erzählt Tong.

Er und seine Helfer haben Hunderte von Menschen aus ihren Häusern gerettet. Manche waren bereits tagelang ohne Nahrung und Wasser. Sie waren so schwach, dass die Retter sie auf Bahren aus den Häusern tragen mussten. Sie machten auch weiter, als die Armee begann, Positionen der Rebellen in der Stadt zu bombardieren.

«Jedes Mal, wenn ich eine Bombe fallen höre, ist es, als steche mir jemand ein Messer ins Herz. Ich bin hier geboren, wie schon meine Eltern und meine Grosseltern. Marawi ist unser Zuhause», sagt Tong.

Die Besetzung der Stadt dauert nun schon über zwei Monate. Die freiwilligen Helfer erhalten keine Anrufe mehr. Die Menschen, die feststeckten, sind entweder an Hunger und Durst gestorben oder in der Gewalt der Rebellen, wie Tong vermutet.

Doch Tong und seine Gruppe helfen weiter. Sie helfen den Rettungskräften, die toten Körper aus der Stadt zu bergen. Es sei, als würde er jedes Mal selber ein wenig sterben, sagt Tong.

Norodin
Legende: Der Clan-Füher und Ex-Politiker Norodin Alonto Lucman hat 144 Zivilisten aus der besetzten Stadt Marawi gerettet. Barbara Lüthi / SRF

Der Clan-Führer: Norodin Alonto Lucman

Norodin Lucman hat die Aura eines Leaders. Seit Generationen gehören die Lucmans zu den einflussreichsten Familien in Marawi. Er ist ein angesehener muslimischer Clan-Führer. Ich treffe Norodin zwei Fahrstunden ausserhalb von Marawi, denn sein eigenes Haus liegt im umkämpften Teil der Stadt. Dort begann die Geschichte, die ihn zum Helden machte.

Als die Islamisten in die Stadt einfielen, trennten sie Christen von Muslimen. Die, die den Koran nicht rezitieren konnten, wurden als Geiseln genommen. Viele von ihnen wurden später erschossen aufgefunden.

Die Christen in der Stadt suchten in Panik nach einem Versteck. So klopfen einige auch an Norodins Tür.

Ich konnte niemandem sagen, dass ich Christen im Haus verstecke.
Autor: Norodin Alonto Lucman Clan-Führer in Marawi

«Ich dachte, dass diese Kämpfe in ein paar Tagen vorbei sind und sagte den Christen: ‹Bleibt hier, euch wird nichts geschehen, solange ich da bin.› Das Militär und meine Verwandten baten mich eindringlich das Haus zu verlassen. Aber ich konnte niemandem sagen, dass ich Christen im Haus verstecke – aus Sorge, dass diese Information irgendwie zu den IS-Rebellen gelangen könnte.»

Zwei Mal klopfen die Islamisten an Norodins Tür. Sie erkannten den Clan-Leader sofort und zeigten Respekt. «Einer von ihnen begann mich im Islam zu unterrichten. ‹Spar dir das bitte›, sagte ich. ‹Ich habe in Mekka studiert.›»

Nach zwölf Tagen gab es im Haus von Norodin kein Essen und Wasser mehr. Er entschloss sich deshalb, die Zivilisten aus der Stadt zu bringen. 74 Menschen hatten mittlerweile in seinem Haus Zuflucht gefunden, 44 davon Christen. Auf dem Weg aus der Stadt tragen die Frauen Kopftuch, die Männer nehmen die Kinder auf den Arm. Sie sollten aussehen wie muslimische Flüchtlingsfamilien.

Norodin ordnete an, ihn alles regeln zu lassen und immerzu «Allahu Akbar» zu rufen – «Gott ist gross». Und so liefen die 74 Menschen durch die Stadt, Norodin an der Spitze des Zuges.

Als die Gruppe eine Brücke überqueren wollte, wurde sie von einem IS-Kämpfer gestoppt. Doch der erkannte den Clan-Führer und grüsste ihn. «Schau nur Norodin, ich kämpfe hier». «Gott möge mit dir sein», grüsste Norodin zurück.

Norodin stellte sich an die Seite der Brücke, die über den Fluss in den sicheren Teil der Stadt führt, um die Menschen zu zählen, die an ihm vorbei liefen. Doch es waren nicht mehr 74, sondern 144: Als der Menschenzug durch die Strassen lief, stiessen weitere Personen dazu. Norodin Lucman brachte alle 144 Menschen in Sicherheit.

Samisa
Legende: Dr. Samisa Dimapinto-Macatoon (rechts) harrt weiter in dem Spital aus, nahe der Frontlinie. Barbara Lüthi / SRF

Die Ärztin: Dr. Samisa Dimapinto-Macatoon

Das Spital Amai Pak Pak steht heute fast leer. Als am 23. Mai die Islamisten in die Stadt kamen, erschossen sie dort einen Ambulanzfahrer und einen Polizisten, der seine Frau im Spital besuchte.

«Sie erschossen diese Männer, weil sie Christen waren. Sofort beschlossen wir, dass sich alle Christen verstecken und nur muslimische Ärzte und muslimisches Personal in der Notaufaufnahme beiben», erzählt die Ärztin Samisa.

Die ersten 16 Stunden der Besetzung durften wir das Spital nicht verlassen.
Autor: Dr. Samisa Dimapinto-Macatoon Spitalsärztin in Marawi

wei Maute-Rebellen brachten an dem Tag einen verletzen Kämpfer mit einer Schusswunde im Unterleib ins Spital. Er hatte bereits keinen Blutdruck mehr. Doktor Samisa operierte trotzdem, in ständiger Panik: «Ich hatte Angst, dass wir als Geisel genommen oder als menschliche Schutzschilder benutzt werden sollten. Die ersten 16 Stunden der Besetzung durften wir das Spital nicht verlassen.»

Auch der verletzte Kämpfer und seine Begleiter seien jung gewesen und sie alle hätten gezittert vor Angst. Kinder, einer Gehirnwäsche unterzogen von radikalen IS–Anhängern, und angeheuert für Geld, nimmt die Ärztin an.

Bis zu 30'000 Pesos (rund 570 Franken) betrage die monatliche Bezahlung eines Kämpfers, heisst es in Marawi. Bei einem monatlichen Durchschnittslohn von nicht einmal 7000 Peso (rund 135 Franken) ist das eine grosse Verlockung.

Wir hatten alle schreckliche Angst, wir dachten nicht, dass wir hier lebend rauskommen
Autor: Dr. Samisa Dimapinto-Macatoon Spitalsärztin in Marawi

Samisa erzählt, wie Patienten in Panik aus dem Spital flüchteten. «Einige rollten in ihren Rollstühlen weg, andere trugen Verletze auf Bahren aus dem Spital». Verwandte fuhren Patienten in kritischem Zustand im Auto weg und eine Mutter riss ihr Baby aus dem Brutkasten. Das Baby starb später. «Wir hatten alle schreckliche Angst, wir dachten nicht, dass wir hier lebend rauskommen», sagt Samisa.

Trotz allem, was diese Ärzte hier erlebt haben, kehrten sie kurz darauf ins Spital zurück, nur 500 Meter von der Frontlinie entfernt. Immer wieder schlagen verirrte Kugeln in das Gebäude ein. Das Spital ist fast leer – niemand wagt sich so nahe an die Frontlinie. «Die Patienten sterben lieber in einem anderen, weniger gut ausgerüsteten Spital in der Provinz. So gross ist die Angst, hierher zu kommen», sagt Samisa.

Es sei der «Call of Duty», ihre Pflicht als Ärztin, anderen Menschen zu helfen. In Zeiten des Krieges sei das umso wichtiger, sagt Doktor Samisa und lächelt.

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