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Kampf gegen Femizide Frankreich ergreift Massnahmen gegen häusliche Gewalt

Auf jedem Polizeiposten Frankreichs sollen sich betroffene Frauen an spezialisierte Beamte wenden können. Frauenverbänden geht das zu wenig weit. Ein Überblick.

Worum geht es? Die französische Regierung hat in dieser Woche neue Massnahmen gegen Gewalt an Frauen verkündet – als Reaktion auf die vielen Fälle von häuslicher Gewalt im Land. Künftig soll auf jeder Polizeistation eine Beamtin oder ein Beamter auf häusliche Gewalt sensibilisiert, ausgebildet und spezialisiert sein, an die oder den sich eine betroffene Frau wenden kann. Zudem sollen Fälle häuslicher Gewalt prioritär behandelt werden.

Warum gerade jetzt? In letzter Zeit kam es zu zahlreichen schlimmen Gewalttaten an Frauen in Frankreich. Die Frauen hatten vor den Taten Hilfe bei der Polizei gesucht, diese aber offensichtlich nicht erhalten. In einem Fall hatte ein Polizist die Anzeige einer Frau aufgenommen, der selber bereits wegen häuslicher Gewalt verurteilt worden war. Die Anzeige blieb ohne Folgen, die Frau wurde später auf offener Strasse von ihrem Ex-Mann angezündet und dabei getötet. «Das ist nur einer von mehreren Fällen, die dazu geführt haben, dass die Gesellschaft für das wichtige Thema wieder sensibilisierter ist und jetzt Beschlüsse folgen», sagt die in Frankreich lebende Journalistin Annika Jöres.

45 Polizeieinsätze pro Stunde

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Laut den am Montag veröffentlichten Zahlen des französischen Innenministeriums wurden im vergangenen Jahr 102 Frauen – und 23 Männer – von ihren Partnern oder Ex-Partnerinnen umgebracht. Das sind zwar deutlich weniger als die 146 Morde im Jahr 2019. Trotzdem: Inzwischen machen Polizeieinsätze wegen häuslicher Gewalt den grössten Anteil an Polizeieinsätzen überhaupt aus. Mehr als 400'000 Mal im ganzen Jahr oder umgerechnet 45 Mal pro Stunde müssen Beamtinnen und Beamte in Frankreich ausrücken, weil eine Meldung wegen häuslicher Gewalt eingegangen ist.

Warum erst jetzt? Präsident Emmanuel Macron hatte schon im Wahlkampf und zu Beginn seiner Präsidentschaft versprochen, etwas gegen die grassierende häusliche Gewalt tun zu wollen. «Es kamen aber immer wieder andere Themen auf, die ihm offenbar wichtiger waren», sagt Jöres. Stichwort: Gelbwesten-Proteste, Rentenreform-Proteste oder die Pandemie. Gerade aber während den Ausgangssperren in den vergangenen anderthalb Jahren verschärfte sich die Situation für viele Frauen, weil sie mit ihrem Peiniger zu Hause sitzen mussten. «Das führte wohl dazu, dass jetzt endlich ein politischer Schritt folgt.»

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Wie sind die Reaktionen? Französische Frauenverbände begrüssen das Gesetzespaket, sprechen aber bloss von einem dringend nötigen ersten Schritt. Was noch nicht vorgesehen sei und auch kritisiert werde, seien von Polizei unabhängige Beratungszentren überall im Land, an die sich gepeinigte Frauen wenden könnten, sagt Jöres. «Die Hemmschwelle, sich an die Polizei zu wenden, ist oft hoch.» Denn meist bestünden grosse Abhängigkeiten, und der Schritt, die Polizei aufzusuchen, sei oftmals zu gross. Es brauche deshalb niederschwelligere Anlaufstellen für Frauen.

Und in der Schweiz?

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In der Schweiz gab es laut der Internet-Plattform stopfemizid.ch dieses Jahr bereits 19 Femizide – also Fälle, in denen Frauen von ihren Ehemännern, Ex-Partnern oder Familienangehörigen umgebracht worden sind – und sechs versuchte Femizide. Diese Angaben macht Sylke Gruhnwald, die die Plattform vor zwei Jahren mitgegründet hat. Gruhnwald stellt dabei fest: «Femizide sind keine Einzelfälle – sie sind ein Resultat struktureller Gewalt.» Der Ursprung für gewalttätige Übergriffe gegen Frauen liege in den Machtverhältnissen in unserer Gesellschaft.

Noch immer werde in der Schweiz Gewalt in der Familie oftmals als Privatangelegenheit angeschaut, der Begriff «Femizid» sei hierzulande «leider» noch immer viel zu wenig geläufig, so Gruhnwald. «In der Schweiz gibt es keine offizielle Stelle, die Femizide festhält und aufzeichnet.» Deshalb habe man das Projekt stopfemizid.ch gegründet. «Wir wollen Fälle von Gewalt an Frauen und an Personen, die als Frauen gelesen werden, möglichst umfassend dokumentieren.» Dazu gehörten auch Fälle aufgrund von Motiven wie Homophobie, Rassismus oder Behindertenfeindlichkeit sowie Morde an Sexarbeiterinnen.

Die Plattform arbeite darauf hin, die mediale Berichterstattung über Femizide in eine achtsamere Richtung zu lenken. «Sie soll unter allen Umständen verhindern, Hinterbliebene und Traumatisierte zu re-traumatisieren und potenzielle Täter anzustacheln», so Gruhnwald. Man versuche auch Denkanstösse in Richtung Aufklärung und Prävention zu geben. Die am Montag in Frankreich angekündigten Massnahmen schätzt Gruhnwald als «sicher sinnvoll» ein.

Genügen die Massnahmen? Kritische Stimmen in Frankreich weisen darauf hin, dass eine angemessene Reaktion auf Vorfälle häuslicher Gewalt nur eine Seite des Problems darstelle. Denn im Grunde gehe es vor allem um ein tiefer sitzendes Problem: «Es müsste eine gesellschaftliche Debatte darüber geführt werden, weshalb die Männer gegenüber ihren Frauen derart gewalttätig werden», so die Journalistin. Dabei sei das Problem sehr vielschichtig: Es gehe um das Frauenbild der Männer, um Hierarchiedenken, um Dominanz in der Beziehung und der Ehe. «Diese Themen müssten eigentlich schon in der Schule angesprochen werden.» Doch zu diesen langwierigen Aufgaben habe die Politik bislang noch nichts gesagt.

SRF 4 News, 03.08.2021, 07:00 Uhr ; 

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