Das Phänomen der Gentrifizierung kennt man weltweit. Ob in Schanghai oder in Zürich. Oder in Washington, D.C.
Die Hauptstadt der USA geht durch einen rapiden Wandel. Ganze Quartiere werden abgebrochen und neu aufgebaut.
Noch 2015 war die Mehrheit afroamerikanisch in der «Chocolate City». Nun wehren sich Bürgerrechtsaktivisten gegen die Verdrängung.
Das ehemalige afroamerikanische Viertel «Shaw» ist heute gentrifiziert. Eine 3-Zimmer-Wohnung im Gebäude der «Atlantic Plumbing» ist derzeit für 3900 Dollar pro Monat ausgeschrieben.
Das sind übliche Preise in Washington. Das mittlere Einkommen beläuft sich auf 73'000 Dollar – es ist das höchste in den USA. Afroamerikaner verdienen in DC unter 40'000 Dollar.
Immer weniger sind sie anzutreffen im ehemaligen Hotspot der Bürgerrechtsbewegung. Gleich um die Ecke der baufälligen Knelle «Fish of Chesapeake» hielt einst Martin Luther King eine Brandrede gegen die Verslummung der US-Innenstädte. Heute ziehen jährlich tausende Hipster in die Hauptstadt.
Hier geschah gerade ein kleiner Zügel-Unfall – Achsenbruch auf der 9th Street, Northwest. «Wir lieben die Diversität dieses Quartiers», sagen junge Passanten, «und die vielen Partylokale».
Wer früh eine gute Nase hatte, konnte mit Liegenschaften viel Geld verdienen.
Gail Montplaisir war eine dieser Pionierinnen. Sie begann in den 1980er-Jahren, einzelne Objekte um- oder neu zu bauen. «Damals nannte man uns Quartier-Verbesserer, heute Gentrifizierer». Für sie sei nach wie vor die nachhaltige Aufwertung eines Quartiers das Ziel, sagt Montplaisir.
Doch heute ist es das globale Grosskapital, das den Liegenschaftsmarkt in DC anheizt. Und dieses Grosskapital hat es nun auf den letzten unentwickelten Stadtteil abgesehen: Anacostia.
Am Martin- Luther-King-Tag marschieren afroamerikanische Aktivisten durch die Hauptstrasse von Anacostia. Gleich nebenan stehen die «Barry Farms». Hier wurden nach dem US-Bürgerkrieg einst befreite Sklaven angesiedelt, in den 1940er-Jahren baute die Stadt auf dem Gelände Sozialwohnungen mit viel Umschwung.
2015 beschloss die Stadt, die vernachlässigten «Barry Farms» zur Überbauung freizugeben.
Der Bürgerrechtsanwalt Aristotle Theresa steht zwischen abbruchbereiten Häusern – die Bäume sind schon gefällt. Rund 450 Familien mussten umziehen, sie hatten zum Teil seit Generationen dort gelebt. Von Theresa ist eine Sammelklage gegen die Stadtbehörden von DC vor dem Bundesgericht hängig – er klagte wegen Diskriminierung und Rechtsmissachtung.
Hier die Vision der Bauunternehmer: Eine gemischt genutzte, verdichtete Überbauung mit 1400 Wohn- und Geschäftseinheiten. «Die meisten neuen Bewohner werden weiss sein», sagt Anwalt Theresa. Auch wenn laut der Sozialbehörde 350 Familien in subventionierte Wohnungen zurückziehen sollen.
«We not moving» – die Sprayereien auf den Ruinen der «Barry Farms» erzählen eine Geschichte des vergeblichen Widerstands. Aber der Kampf geht weiter.
Paulette Matthews ist eine der Bewohnerinnen, die umziehen mussten und eine der Sammelklägerinnen. Sie lebt nun im gentrifizierten «Shaw» in einer Sozialwohnung. «Die jungen weissen Hinzuzüger sehen mich an, als ob ich nicht hierher gehöre», sagt sie. Und lacht. Sie ist im «Shaw» aufgewachsen.
Die neue Bürgerbewegung gegen die Gentrifizierung kämpft mit allen legalen Mitteln. An diesem Hearing der Aufsichtskommission des Stadtparlaments sprechen Dutzende von Betroffenen vor. Gegen Bauprojekte gehen sie mit Einsprachen vor. Auch die junge Generation ist mobilisiert.
Die Aktivistengruppe C.A.R.E trifft sich des Abends, um Protestaktionen zu planen. Es fallen Sätze wie: «Wir sind unter Attacke» oder: «Wir überlebten die Crack-Epidemie, und nun, da es Aufschwung gibt, sollen wir gehen».
Die Wut ist nachvollziehbar: In Anacostia hat die Stadt lange nicht investiert. Die Schulen schneiden am schlechtesten ab, es gibt einen Lebensmittelladen für 80'000 Bewohner.
Ob die neue Bürgerbewegung die Gentrifizierung aufhalten kann? Den Kampf gegen das Grosskapital und eine wachstumsorientierte Stadtplanung gewinnen? «Auch Martin Luther King brachte Dinge in Bewegung», sagt ein Aktivist. An Entschlossenheit fehlt es nicht.