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Katalonien vor der Wahl Der vertrackte Artikel 155

Spaniens Regierung setzt die katalanische Regierung ab, lässt wählen – und beruft sich auf die Verfassung. Kann sie das?

Darum geht es

  • Katalonien steht vor einer entscheidenden Woche: Am kommenden Donnerstag wird gewählt.
  • Einzelne Spitzenpolitiker, die kandidieren, sitzen in Untersuchungshaft, andere – darunter der frühere Präsident Puigdemont – harren in Brüssel aus, weil auch ihnen die Verhaftung droht.
  • Die illegale Abstimmung über Kataloniens Unabhängigkeit im Oktober hat eine Intervention der Zentralregierung in Madrid ausgelöst. Diese hat die katalanische Regierung abgesetzt, das Parlament aufgelöst und die Wahlen vom Donnerstag angesetzt.
  • Sie stützte sich dabei auf den Verfassungsartikel 155, der zum ersten Mal angewendet wurde. Doch was die Regierung tat, ist unter Verfassungsexperten umstritten.

Die Richter sind noch an der Spurensicherung. Eine Frage ist, ob es überhaupt eine formelle Erklärung der Unabhängigkeit Kataloniens gegeben hat. Die frühere katalanische Regierung bestreitet das.

Der spanische Verfassungsrechtler Xavier Arbós Marín hat daran keine Zweifel. Er stützt sich auf Resolutionen und Gesetze, die das Parlament verabschiedet hat. Es habe damit faktisch den Weg zur Unabhängigkeit bereits eingeschlagen. Man könne darum sagen, es habe eine Unabhängigkeitserklärung gegeben. «Der Wille des Parlaments war unmissverständlich», sagt Arbós. «Und das war kein politischer, sondern ein juristischer Schluss.»

«Die Massnahmen der Regierung Rajoy waren exzessiv»

Politik und Recht – Arbós kommt immer wieder auf das Spannungsfeld zwischen diesen beiden Polen zu sprechen. Das ist die Bühne des katalanischen Konflikts. Madrid griff, erstmals überhaupt, auf den Verfassungs-Paragraphen 155 zurück, der eine Intervention der Zentralregierung ermöglicht. Diese zögerte erst, dieses Neuland zu betreten, ging dann allerdings ziemlich forsch zu Werke.

«In der Verfassung steht, die Regierung könne der autonomen Region Anweisungen geben», sagt Arbós. Aber selbst die Führung der Region zu übernehmen, Entscheide zu fällen mit weitreichenden politischen Folgen, das sei eine ganz andere Sache. In Katalonien, sagt Arbós, habe die Zentralregierung das Parlament aufgelöst und Wahlen ausgerufen. «Dafür fehlte ihr meines Erachtens die rechtliche Grundlage. Die Massnahmen der Regierung Rajoy waren exzessiv.»

Was Arbós als exzessiv bezeichnet, hatten die Konservativen 1978 in die Verfassung schreiben wollen – das Recht der Zentralregierung, eine autonome Regierung abzusetzen. Sie sind damit durchgefallen. Arbós stimmt dem Vorwurf der Rajoy-Kritiker darum zu, der Ministerpräsident habe gegen den Geist der Verfassung verstossen.

Juristisch falsch, politisch richtig?

Aber Arbós ist kein Jurist, der die Welt nur in Paragraphen liest. Was juristisch falsch war, sagt er, halte er für politisch richtig. «Wahlen rücken einen politischen Entscheid in den Vordergrund. Welche Mehrheit man will und damit auch welche Regierung. Und: Man legt diesen Entscheid in die Hände des katalanischen Volkes.»

Präsident Puigdemont hätte selbst Wahlen ausrufen wollen, um so der Anwendung des Paragraphen 155 zuvorzukommen. Dieses Instrument aber wollte Rajoy nicht aus der Hand geben. Ob die kommenden Wahlen ein Ergebnis bringen, das dem Ministerpräsidenten zupass kommt, ist noch sehr unsicher. Es ist auch möglich, dass bald wieder der Ruf nach einem Referendum zu hören ist – einem allerdings, das Madrid bewilligt.

Die Verfassung böte grundsätzlich einen Weg, sagt Xavier Arbós, aber eben nur grundsätzlich. «Man kann eine konsultative Abstimmung durchführen ohne verbindliches Resultat. Aber der Weg ist für die Katalanen wohl blockiert. Das Verfassungsgericht hat nämlich schon 2008 entschieden, dass es keine konsultative Abstimmung geben kann, wenn diese zu einem Resultat führen könnte, das der verfassungsmässigen Ordnung widerspricht», sagt Arbós. Unabhängigkeit stehe bestimmt auf dem Index.

Recht sollte die Politik nicht ersetzen

Klar, sagt, Arbós, man könne an eine Verfassungsreform denken, nötig wäre sie, aber sie sei auch kompliziert und vor allem: keine magische Formel, die alles wieder richtet. Übersetzt heisst das: Recht muss eine Folge von Politik sein. Und aus Recht wächst wieder Politik. Aber Recht sollte die Politik nie ersetzen.

Xavier Arbós ist wieder bei seinem zentralen Thema. «Man hat immer wieder gesagt, der Katalonienkonflikt sei ein politischer Konflikt. Also kann man ihn nur mit Politik lösen. Wer glaubt, eine andere Verfassung sei die Antwort, vergisst, dass wir es hier zuerst mit einem Legitimitätsproblem zu tun haben, man traut den Regierungen und Behörden nicht mehr.» Arbós spricht es nicht aus, aber seine Botschaft ist klar: Gegen solche Zustände hat die Verfassung keine Macht.

«Wenn die Gesellschaft befriedet ist, wenn das Vertrauen in Politik und Behörden wieder hergestellt ist, dann ist eine Grundlage da, auf der politische Kompromisse wieder möglich sind», sagt der Verfassungsjurist und fügt noch an: «Hoffen wir.»

Was im Artikel 155 steht

Der spanische Staat betritt Neuland mit der Anwendung des Artikels 155, denn er ist sehr vage gehalten. So heisst es im Absatz 2: «Zum Zwecke der Ausführung der (...) Massnahmen kann die Regierung allen Behörden der autonomen Gemeinschaften Weisungen erteilen.» Das heisst: die Regierung in Madrid wäre gegenüber allen Einrichtungen der katalanischen Verwaltung weisungsbefugt.
Unter Verfassungsexperten wird aber beispielsweise militärische Gewalt ausgeschlossen. Unzweifelhaft ist, dass eine Loslösung Kataloniens vom Rest Spaniens einen gravierenden Verstoss gegen die Verfassung darstellt. In Artikel 2 heisst es unmissverständlich: «Die Verfassung stützt sich auf die unauflösliche Einheit der spanischen Nation, gemeinsames und unteilbares Vaterland aller Spanier, und anerkennt und gewährleistet das Recht auf Autonomie der Nationalitäten und Regionen, die Bestandteil der Nation sind, und auf die Solidarität zwischen ihnen.»

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