In Nordirland explodieren längst keine Bomben mehr. Seit dem Abkommen vom Karfreitag im Jahre 1998 herrscht in der britischen Provinz Frieden. Doch die Wunden des Bürgerkriegs, der 3500 Menschen das Leben gekostet hat, sind nicht verheilt. Es war der ehemalige Premierminister Boris Johnson, der per Gesetzesbeschluss definitive einen Schlussstrich unter die blutige Vergangenheit ziehen wollte.
Vergebung lässt sich nicht gesetzlich verordnen
Eine Amnestie für alle damaligen Täterinnen und Täter. Polizisten, Soldaten, aber auch Paramilitärs der Irischen Befreiungsarmee (IRA). Strafprozesse zu Morden und anderen Verbrechen, die während dem Bürgerkrieg begonnen wurden, soll es nach dem Amnestiegesetz, nicht mehr geben. Doch wer einmal an der jährlichen Gedenkveranstaltung zum «blutigen Sonntag» im nordirischen Derry dabei war, erahnt, dass sich Vergebung nicht gesetzlich verordnen lässt.
Bis heute werden jedes Jahr im Januar im Stadtzentrum von Derry die Namen der damaligen Opfer verlesen. Am 30. Januar 1972 haben Fallschirmjäger einer britischen Spezialeinheit im äussersten Zipfel Nordirlands 13 unbewaffnete Demonstrantinnen und Demonstranten erschossen und 13 schwer verletzt.
Das Ereignis führte wesentlich zu einer Eskalation des Nordirlandkonflikts. 2010 hat der damalige Premierminister David Cameron zwar Angehörige der Opfer um Verzeihung gebeten, doch die Wunden des Massakers sind bis heute nicht verheilt.
Britische Regierung unter Druck
Die betroffenen Familien fordern Gerechtigkeit. Sie wollen, dass die Täter von damals zur Rechenschaft gezogen werden. Sie werfen der Regierung in London vor, mit dem Amnestiegesetz in erster Linie britische Armee-Veteranen vor rechtlichen Konsequenzen zu schützen. Politisch kommt die britische Regierung dabei gleich von zwei Seiten unter Druck. Neben der irischen Regierung in Dublin lehnen auch alle politischen Parteien in Nordirland das Gesetz ab.
Das sorgt in Downing Street für Verstimmung. Die Klage Dublins sei bedauerlich, schreibt am Donnerstag der konservative «Daily Telegraph». Denn Irland handle scheinheilig. Dessen Regierung habe nach dem Friedensabkommen vom Karfreitag wenig bis nichts unternommen, um ehemalige Kämpfer der Irischen Befreiungsarmee IRA strafrechtlich zu verfolgen.
Und für konservative Parlamentarierinnen und Parlamentarier liefert die Klage Irlands lediglich einen weiteren Grund, den Austritt Grossbritanniens aus der Europäischen Menschenrechtskonvention zu fordern. Die Klage erschüttert ebenso die Bemühungen, die Beziehung zwischen dem EU-Mitglied Irland und London zu normalisieren, die seit dem Brexit ziemlich ramponiert ist.