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Klassik im Slum Bach und Beethoven fürs Selbstvertrauen in Kenia

Das Leben im Slum ist nicht einfach. Doch einigen jungen Kenianern gibt klassische Musik mehr Halt und eine Perspektive.

Alltag im Slum Korogocho: Kinder spielen auf der Strasse, Frauen verkaufen Lebensmittel, Männer stellen aus Altmetall kleine Kocher her. Von der Müllhalde nebenan wehen gelegentlich übelriechende Rauchschwaden herüber. Doch hinter einem Metalltor hört man klassische Musik.

Im katholischen Gemeinschaftszentrum sitzt Francis Gafue konzentriert am Cello. Der 17-Jährige kommt jeden Tag hierher. «Müssiggang ist aller Laster Anfang», sagt er. Im Slum gebe es zu viel Ablenkung: Drogen und Gangs zum Beispiel. «Das hat schon viele Träume zerschlagen.»

Niemand wird abgewiesen

Das Cello fasziniert Francis, «weil es eine menschliche Stimme hat», dieselbe Tonlage also. Dass er nun sogar im Orchester Cello spielt, findet Francis noch immer «irgendwie verrückt». Im und um das Haus des Zentrums spielen an diesem Nachmittag Dutzende Jugendliche auf ihren Instrumenten.

Wer vor dem Metalltor aufkreuzt und ein Instrument lernen will, werde nicht abgewiesen, erzählt Elizabeth Njoroge. Die Kenianerin gründete vor zwölf Jahren einen Kinderchor, auf Bitte des katholischen Pfarrers. Das Interesse an Musikunterricht wuchs rasch: Über 2000 Jugendliche unterrichtet Njoroges Projekt. Die besten unter ihnen spielen im klassischen Orchester namens «Ghetto Classics».

Waldhorn-Lektionen via Handy

In einem Raum nebenan sitzt Anne Adhiambo mit ihrem Waldhorn auf einer Holzbank. Ihr Lehrer schaltet sich per Telefon zu. Die Pandemie hat das gemeinsame Üben fast unmöglich gemacht. Inspiration findet Anne online, sie googelt mit dem Handy ihres Bruders nach Waldhorn-Stücken.

Wie Francis spielt auch Anne im klassischen Orchester mit. Das gemeinsame Musizieren habe sie sozialer gemacht und gebe ihr Selbstvertrauen, sagt die 17-Jährige. Doch was bringt musikalische Förderung für Jugendliche aus dem Slum, die trotzdem kaum berufliche Perspektiven haben?

Elizabeth Njoroge erklärt: «Drei, vier meiner Geigenlehrer waren bereits Schüler hier. Nun spielen sie in Ensembles und verdienen damit Geld.» Doch am wichtigsten sei es nicht, Musiker zu werden, sondern die Jugendlichen in allem zu unterstützen, was sie erreichen wollten. So finanziert die Stiftung von Njoroge einem Musiker das Medizinstudium, anderen den Schulbesuch.

Lieber Bieber statt Klassik

Wenn Francis mit seinem Cello auftaucht, dann sorgt er in Korogocho für Aufsehen. «Die meisten glauben, das sei eine grosse Gitarre», lacht er. Wenn er dann Bach spiele, könne kaum jemand etwas damit anfangen. «Doch dann spiele ich Kenias Nationalhymne, und plötzlich sind alle begeistert.»

In seiner Freizeit hört Francis kaum klassische Musik. Er ist Fan des Popsängers Justin Bieber. Doch die Klassik soll sein Leben weiter bestimmen. «Ich will Cellolehrer werden», erklärt er. Und Francis hat einen Traum: Irgendeinmal möchte er mit den Berliner Philharmonikern spielen.

Echo der Zeit, 04.01.2020, 18 Uhr

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