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Wahlschild an Strasse. Dunkle Wolken am Himmel.
Legende: Paul Biya ist in Kamerun seit 36 Jahren an der Macht. Keystone

Konflikt in Kamerun «Die Krise hat uns zu Bettlern degradiert»

Am Wochenende wählt das zentralafrikanische Land seinen Präsidenten. Im Vorfeld regieren Angst, Gewalt und Misstrauen.

Der Neue dürfte der Alte sein: Paul Biya regiert Kamerun seit 36 Jahren autokratisch und dürfte es auch weiterhin tun. Doch sein Land steckt in der Krise. Seit Jahrzehnten fordert die englischsprachige Minderheit mehr Rechte. Vor einem Jahr ergriffen schliesslich Separatisten die Waffen. Seither herrscht in den anglophonen Gebieten Krieg. Hunderte Menschen sind ums Leben gekommen, rund 300'000 geflohen. So auch die Familie Baiye.

Frida Baiye steht in einem kleinen Schlafzimmer. Gerade mal ein Doppelbett und ein Schrank passen hinein. «Hier schlafe ich mit meinen sieben Kindern und zwei weiteren Knaben. Das Leintuch legen wir zum Schlafen auf den Boden, wir konnten ja nichts mitnehmen auf die Flucht.» Im Zimmer ist es feucht und drückend heiss. Selbst beim Eindunkeln herrschen in Douala, der grössten Stadt Kameruns, noch 27 Grad.

Zu Hause hatten wir alles.
Autor: Frida Baiye Flüchtling

Die Mittelstandsfamilie muss sich erst an das einfache Leben gewöhnen, in das sie vor zwei Wochen aus ihrer Heimatstadt Buea fliehen musste. «Zu Hause hatten die Kinder ihre eigenen Zimmer, ihre eigenen Badezimmer, wir hatten eine grosse Stube, eine grosse Küche, einen Gemüsegarten. Wir hatten alles», sagt Frida Baiye. Die Krise habe sie zu Bettlern degradiert.

Mit Englisch kommt man nicht weit

Die englischsprachige Bevölkerung macht 20 Prozent in Kamerun aus. Ihr Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein, ist Jahrzehnte alt. Wer in Kamerun nur Englisch spricht, der kommt nicht weit. Auch wenn die offiziellen Amtssprachen Englisch und Französisch sind, ist es beispielsweise praktisch unmöglich, auf Englisch einen Pass zu beantragen.

Mann sitzt auf Stuhl, Blumen im Vordergrund.
Legende: Paul Biya hat im offiziell zweisprachigen Kamerun noch nie eine Ansprache auf Englisch gehalten. Reuters

2016 gingen schliesslich Anwälte und Lehrer in den englischsprachigen Regionen auf die Strasse. Sie forderten mehr Anerkennung der englischen Sprache und Kultur. So verlangten sie beispielsweise, dass das Gesetz ins Englische übersetzt wird. Weiter wollten sie erreichen, dass nur Richter und Schulvorsitzende gewählt werden können, die genügend Englischkenntnisse besitzen.

Die Regierung schickte das Militär zu den Demonstrierenden. Dieses schlug die friedlichen Kundgebungen brutal nieder. Dutzende wurden getötet, Hunderte verhaftet, das Internet blockiert. Als ein Jahr später Aktivisten eine symbolische Unabhängigkeit ausriefen, schritt erneut das Militär ein. Die Separatisten – die sogenannten «Amba Boys» – griffen daraufhin zu den Waffen.

Ausgebranntes Auto.
Legende: Die «Amba Boys» haben in Buea bei einem Angriff Autos angezündet. SRF

«Ich habe bei uns im Dorf gesehen, wie Leute getötet wurden. Mein Onkel wurde getötet in dieser Krise», erzählt die 15-jährige Bessem. Sie ist eine entfernte Verwandte von Frida Baiyes. Vor Monaten schon musste Bessem aus ihrem Dorf fliehen. Die Baiye-Familie nahm das Mädchen auf.

Die kamerunische Armee und die Separatisten überbieten sich in den anglophonen Regionen mit ihren Gräueltaten. Sie töten, vergewaltigen, köpfen Menschen, brennen ganze Dörfer nieder. Die Opfer sind allzu oft Zivilisten. Wie viele es sind, weiss niemand. Lokale NGOs gehen von über 4000 Toten aus. Täglich werden es mehr.

Wo sind Bessems Eltern?

Die Eltern der 15-jährigen Bessem sind in den Busch geflohen. «Ich mache mir Sorgen um sie. Ich verstehe nicht, warum sie nicht auch nach Douala kommen.» Wie viele Bauern wollen auch Bessems Eltern ihr Land nicht verlieren. Wovon sollten sie auch in der Grossstadt leben?

Viele Geflüchtete trauen sich ausserdem nicht in die Dörfer und Städte zurück, weil sie ihre Ausweispapiere in den abgebrannten Häusern verloren haben. Ohne Ausweis haben sie Angst, als Separatist verdächtigt zu werden. Ein Todesurteil. Was Frida Baiye ihrem Schützling Bessem verschweigt: Von dem Vater der 15-Jährigen fehlt schon lange jede Spur.

Ich kann es mir nicht leisten, die Kinder zur Schule zu schicken.
Autor: Frida Baiye Flüchtling

Das junge Mädchen im blauen Kleid geht seit zwei Jahren nicht mehr zur Schule. Als die Armee in die anglophonen Regionen eingriff, reagierten die Lehrer nämlich mit zivilem Ungehorsam: einem Schulboykott. Und als einige Lehrer wieder unterrichten wollten, griffen die Separatisten ein. Wer es wagt, die Schule wiederaufzunehmen, wird seither attackiert.

Frida Bayies Familie ist seit ihrer Flucht aus dem Konfliktgebiet in Sicherheit. Doch in die Schule werden die Kinder wohl noch länger nicht können. Die Familie kann es sich nicht leisten. «Ich habe das Geld nicht. Und wenn ich es habe, muss ich zuerst eine richtige Unterkunft und Essen organisieren.»

Geschäfte mit heruntergelassenen Rollos.
Legende: In der Stadt Buea sind die meisten Läden geschlossen. SRF

Die 35-jährige Mutter von sieben Kindern musste ihren lukrativen Bücherladen bereits vor zwei Jahren aufgeben. Nun ist auch der kleine Lebensmittelladen zuhause in Buea weg. Die grosse Frau mit den hochgesteckten Zöpfen hat kein Einkommen. Und bald auch kein Dach mehr über dem Kopf.

Ihr Freund, bei der sie mit den Kindern Unterschlupf fand, erwartet 13 geflüchte Verwandte aus dem Nordwesten. Dann hat es für die Baiye-Familie keinen Platz mehr. «In zwei Tagen müssen wir gehen. Ich gehe von Tür zu Tür, um nach Unterschlupf zu fragen. Aber niemand hat Platz für sieben Kinder.»

Mann sitzt in Restaurant.
Legende: Enoh Tanjong ist Professor für Kommunikation an der Universität Buea. SRF

In Buea – der Heimatstadt von Frida Bayie – geblieben ist Enoh Tanjong. Er ist Professor für Kommunikation, und es bedeutet ihm viel, Anglophoner zu sein. Einfach ist das aber nicht. Englischsprachiger Kameruner zu sein, bedeute Marginalisierung. «Wenn du dir etwas verdient hast, zum Beispiel eine Stelle, dann lassen es viele Frankophone so aussehen, als würde man dir einen Gefallen tun, nicht weil du der Beste bist.»

Anglophoner Kameruner zu sein, bedeutet Marginalisierung.
Autor: Enoh Tanjong Kommunikationsprofessor

Wie die meiste Kameruner verabscheut der 63-jährige Professor den Krieg zutiefst. Kürzlich hat er seinen Bruder verloren, der versuchte zu fliehen. Dennoch hat Enoh Tanjong Sympathien für die Separatisten. «Terrorist, Sezessionist, das ist keine fixe Bezeichnung. Auch Nelson Mandela wurde jahrelang als Terrorist bezeichnet. Diese Bezeichnungen können sich mit der Zeit ändern.»

Die grosse Frage ist nun, ob die Präsidentschaftswahlen in den beiden anglophonen Regionen am Sonntag stattfinden können. Die Separatisten haben mit Anschlägen gedroht, sollte es Wahlen geben. Professor Tanjong wird sich an die Weisung halten, und nicht wählen gehen. «Ich werde doch nicht mein Leben riskieren.» Wer gewinnt, sei sowieso klar: Paul Biya, der in seiner 36-jährigen Präsidentschaft noch nie eine Ansprache auf Englisch gehalten hat.

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