«Ich weiss nicht mit absoluter Sicherheit, ob mein Grossvater tatsächlich hier begraben war.» Teresa Llopis steht auf dem Friedhof von Paterna bei Valencia. Auf einer rund zwei mal zwei Meter grossen, brachliegenden Parzelle, angeschrieben nur mit «fossa 100»: Massengrab Nummer 100.
Erschossen wegen Mitgliedschaft in der Gewerkschaft
Fast zweihundert solcher Massengräber gibt es auf diesem Friedhof – mit insgesamt 2238 sterblichen Überresten. Es sind Opfer des Regimes des Diktators Francisco Franco. Sie wurden wenige hundert Meter vom Friedhof entfernt erschossen und hier verscharrt.
Unter ihnen Teresa Llopis' Grossvater. Sein Vergehen: «Er war Mitglied in der Gewerkschaft. Und eine Zeit lang auch der republikanischen Linken, einer Partei von damals.» Am 2. Mai 1939 wurde er erschossen.
Viele Details ihrer Familiengeschichte kennt die heute 57-jährige Teresa Llopis erst seit kurzer Zeit. In ihrer Familie habe man nicht im Detail darüber gesprochen. «Ich glaube, meine Grossmutter hat meinem Vater gewisse Dinge verschwiegen, einfach um ihm den Schmerz zu ersparen. Und mein Vater tat wohl dasselbe mit uns Kindern. Was sie erzählten, war beschönigt.»
Der Pakt des Vergessens
Die Familie Llopis steht exemplarisch für einen grossen Teil der spanischen Gesellschaft. Die Gräueltaten, die Francos Regime begangen hatte, wurden lange kollektiv verschwiegen – auch von der Seite der Opfer. Zuerst, noch während der Diktatur, aus Angst vor weiterer Repression. Dann, in der Zeit des Übergangs zur Demokratie, um den Aufbruch in die neue Zeit nicht zu gefährden. «El pacto del olvido» – der Pakt des Vergessens – nennt sich das in Spanien.
Erst ab den Nullerjahren begann sich dies wirklich zu ändern. Die Massengräber spielen dabei eine wichtige Rolle. Viele Angehörige wollen genau wissen, wo ihre Väter, Mütter oder Grossväter, Grossmütter verscharrt wurden. Und setzen sich für die Exhumierung der Gebeine ein.
Wir würden Grossvater zum Grab meiner Grossmutter und meines Vaters bringen. Sie hätten nie voneinander getrennt werden dürfen.
So auch Teresa Llopis und ihre Familie. Sie möchten die Überreste ihres Grossvaters umbetten lassen: «Wir würden ihn zum Grab meiner Grossmutter und meines Vaters bringen. Es ist mir sehr wichtig, die drei wieder vereinen zu können. Sie hätten nie voneinander getrennt werden dürfen.»
Noch ist es nicht so weit – die Gebeine im Massengrab Nummer 100 sind noch nicht definitiv identifiziert. Denn die Arbeiten sind aufwendig und ziehen sich in die Länge.
Heikle archäologische Arbeiten
Warum, weiss der Archäologe Alex Calpe. Seit über zehn Jahren begleitet er Exhumierungen von Massengräbern. Nur schon die Bergung der Knochen sei heikel. Damit sie nicht durch Sonne, Regen oder Hitze beschädigt werden, spannen die Teams Sonnensegel oder Zelte auf. «Zudem arbeiten wir mit Masken und Handschuhen, wenn wir irgendetwas anfassen, das mit dem Opfer zu tun hat, vor allem die Knochen – damit wir nicht unsere DNA übertragen.»
Exhumierungen auf dem Friedhof Paterna
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Bild 1 von 2. Beim Umgang mit den Knochen ist grösste Vorsicht geboten. Bildquelle: Reuters/Juan Medina.
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Bild 2 von 2. Archäologinnen des Teams von Alex Calpe exhumieren ein Massengrab auf dem Friedhof Paterna bei Valencia. Bildquelle: Reuters/Eva Máñez.
Die Arbeit sei aber auch emotional nicht einfach, sagt der Archäologe: «Bereits während der Ausgrabung kann man erkennen, dass die Menschen gewaltsam gestorben sind. Man sieht die Einschüsse in den Knochen, in den Armen oder Rippen. Die meisten haben ausserdem auch ein Schussloch im Schädel.»
Zuletzt wird eine genetische Probe der Leiche mit Speichelproben von Angehörigen verglichen.
Die Knochen würden jeweils vor Ort gereinigt und getrocknet. Dann gehe alles in ein Labor nach Madrid, wo forensische Anthropologen die Gebeine untersuchen und Alter, Geschlecht und Statur bestimmen. «Zuletzt wird dann eine genetische Probe der Leiche mit Speichelproben von Angehörigen verglichen. So kann die Leiche identifiziert und der Familie übergeben werden.»
Im Idealfall. Allerdings sei das genetische Material der bis zu neunzig Jahre alten Reste nicht sehr verlässlich, sagt der Archäologe Alex Calpe. Nur ein kleiner Teil der exhumierten Gebeine konnte bis anhin identifiziert werden.
Politische Kontroverse um Anerkennung
Abgesehen von den technischen Herausforderungen sind die Exhumierungen auch politisch umstritten – seit Jahren. Spaniens Linke hatte damit begonnen, den Pakt des Vergessens infrage zu stellen. 2007 verabschiedete das damals sozialistisch dominierte Parlament erstmals ein Gesetz zur Anerkennung der Opfer des Bürgerkriegs und der Diktatur. Und ebnete den Weg, damit Angehörige ein Recht auf die Exhumierung ihrer Vorfahren erhielten.
Doch die konservative Volkspartei, der Partido Popular, stand und steht der umfassenden Aufarbeitung der Diktatur eher skeptisch gegenüber. In den letzten Jahren sekundiert von der Rechtsaussenpartei Vox, die noch weiter geht und das Franco-Regime gar gerne öffentlich verharmlost.
Mariso Gayo ist in Valencia beim Partido Popular für das Thema zuständig. Sie kritisiert, die Linke instrumentalisiere die Aufarbeitung der Geschichte: «Sie konzentrieren sich nicht darauf, aus der Geschichte zu lernen, was das Wichtigste wäre, um Fehler und Irrtümer nicht zu wiederholen.» Sondern sie setzten auf Konfrontation, versuchten, die Spanierinnen und Spanier zu spalten. «Man sollte nicht einfach aus politischen Gründen ständig auf dieses Thema zurückkommen, denn so wird der Hass immer wieder neu zum Aufflammen gebracht.»
Gerade in diesem Jahr ist die politische Kontroverse wieder besonders virulent. Denn vor genau fünfzig Jahren – am 20. November 1975 – starb der Diktator Francisco Franco. Während die Regierung unter sozialistischer Führung das fünfzigste Todesjahr zum Anlass nahm, diverse Veranstaltungen und Ausstellungen in die Wege zu leiten, schrieb der konservative Partido Popular diesen Sommer in sein Parteiprogramm: «Wir brauchen ein Spanien, in dem weniger über die Vergangenheit und mehr über die Zukunft gesprochen wird.»
Unterschiedliche Ansichten zu Massengräbern
Zwischen den politischen Positionen drohen Anliegen von Bürgerinnen und Bürgern auf der Strecke zu bleiben. Das weiss die Anthropologin Pepa García bestens. Sie hat in den letzten Jahren untersucht, wie Nachfahren heute noch mit dem Erbe der Diktatur zu kämpfen haben. Und sie weiss aus ihren Befragungen zudem: Auch unter den Angehörigen der Opfer gibt es unterschiedliche Haltungen.
Exhumierungen seien nur eine Art, mit der Vergangenheit umzugehen: «Die Gebeine seines Grossvaters nach Hause zu holen, ist etwas sehr Intimes, Familiäres. Dabei fehlt aber die kollektive, die gesellschaftliche Ebene. Deshalb gibt es auch Angehörige, die Exhumierungen ablehnen.»
Diese Erde ist getränkt vom Blut der Männer, die hier ins Grab geworfen wurden. Das ist heilig.
Ein Beispiel ist Celia Chofre. Auch die Überreste ihres Grossvaters ruhen in einem der Massengräber des Friedhofs Paterna bei Valencia. Sie hat sich mit Erfolg gegen die Exhumierung gewehrt. Denn sie möchte das Massengrab, wo ihr Grossvater ruht, bewahren, wie es ist. «Diese Erde ist getränkt vom Blut der Männer, die hier ins Grab geworfen wurden. Das ist heilig», sagt die 72-Jährige.
Sie sieht das Massengrab als Denkmal. «Auch wenn wir einmal nicht mehr da sind: Das hier bleibt, so wie die Konzentrationslager von Auschwitz oder Mauthausen, als Mahnmal der Repression.»
Die Anthropologin Pepa García betont, dass es im Ermessen der Angehörigen liegen müsse, als was sie die Massengräber betrachten. «Viele Nachfahren denken, dass es franquistische Gräber sind, unwürdige Löcher, von Francos Regime geschaffen.» Andere aber sähen die Gräber als Zeugnis des politischen Kampfes ihrer Vorfahren: «Sie auszuheben wäre, als würde ein Teil ihrer politischen Biografie zum Verschwinden gebracht.»
Beide Ansichtsweisen seien gerechtfertigt, sagt García. Besonders wichtig sei aber, dass der Wunsch der Nachfahren, die Geschichte der Diktatur aufzuarbeiten, ernst genommen werde. Das sei bei Weitem noch nicht der Fall, findet die Anthropologin: «In Spanien haben wir es nicht geschafft, den Umgang mit der Geschichte zu einem Anliegen aller zu machen.»