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Krieg in der Ukraine «Russland nutzt das AKW Saporischja als Schutzschild»

Das Atomkraftwerk Saporischja in der Ukraine ist das grösste Europas. Es steht immer wieder unter Beschuss. Russland und die Ukraine haben sich wiederholt gegenseitig vorgeworfen, für Angriffe auf das Gebiet verantwortlich zu sein. Das AKW ist seit März von russischen Truppen besetzt, wird aber von ukrainischen Technikern betrieben. Eigentlich dürfe es nicht angegriffen werden, so Völkerrechtsprofessor Oliver Diggelmann.

Oliver Diggelmann

Professor für Völkerrecht

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OIiver Diggelmann lehrt an der Universität Zürich Völkerrecht, Öffentlichkeitsrecht und Staatsphilosophie. Neben Aufenthalten an Universitäten in Grossbritannien, den USA, Deutschland und Ungarn, war er persönlicher Mitarbeiter des Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte EGMR.

SRF News: Verletzt Russland mit der Besetzung des AKWs Völkerrecht?

Oliver Diggelmann: Der Krieg an sich verletzt natürlich Völkerrecht. Man muss aber unterscheiden, ob eine bestimmte Kriegshandlung das humanitäre Völkerrecht verletzt. In den Kriegführungsregeln ist es so: Die Besetzung an sich ist nicht verboten. Das Problem aber ist hier nicht die Besetzung, sondern der denkbare Austritt von Radioaktivität.

Russland missbraucht das AKW für einen unzulässigen militärischen Vorteil. Das verletzt vor allem die Regel, dass Kriegsparteien die Zivilbevölkerung vor Schaden verschonen müssen, denn das Eingehen des Risikos eines nuklearen Unfalls ist natürlich das Gegenteil davon.

Dürfen AKW keinesfalls angegriffen werden oder kommt es darauf an, ob Russland von dort aus Kriegsoperationen durchführt?

Faktisch bedeutet die Regelung in den Genfer Konventionen nahezu ein Angriffsverbot. Es gibt zwar kein absolutes Verbot. Man kann aber sagen, die Regelung kommt dem doch ziemlich nahe, denn zivil genutzte AKW dürfen a priori nicht angegriffen werden. Und militärisch genutzte dann nicht, wenn eine Verstrahlungsgefahr besteht für die Bevölkerung.

Die Ukraine darf das AKW wegen der Verstrahlungsgefahr nicht angreifen.

Und das ist wohl fast immer der Fall. Nun nutzt Russland das Gelände ja militärisch, nicht das AKW selbst, es nutzt es sozusagen als Schutzschild. Es lagert Munition, hat Truppen stationiert. Und dennoch darf die Ukraine das AKW wegen der Verstrahlungsgefahr nicht angreifen. Es gibt eine einzige Ausnahme: Wenn Russland den Strom selbst für seine Militäroperationen nutzen würde. Oder wenn der Angriff auf die Anlage verhältnismässig wäre. Aber das wiederum sehe ich nicht.

Die Ukraine wirf Russland vor, es wolle das AKW ans eigene Stromnetz auf der Krim anschliessen. Würde dies das AKW zu einem erlaubten militärischen Angriffsziel machen?

Zu einem militärischen Ziel: Ja. Die Krim ist ja besetzt. Und die Nutzung des Stroms wäre dann Teil einer Militäroperation, der Besetzung fremden Staatsgebiets. Das heisst aber noch nicht, dass die Ukraine die Anlage auch angreifen darf. Grundsätzlich ist das zwar bei militärischen Zielen möglich, aber eben: Das Sonderregime für militärisch genutzte AKW-Gelände gilt nur unter äusserst restriktiven Voraussetzungen.

Bei AKW gibt es diesen Spezialschutz vor Angriffen, und zwar selbst, wenn sie militärisch genutzt werden.

Und die Schlüsselfrage ist hier erneut die der Verhältnismässigkeit. Was ist schlimmer? Der Ausfall kritischer Infrastruktur in der Ukraine? Kein Strom in Spitälern mit möglicherweise vielen zivilen Opfern? Oder das Risiko austretender Radioaktivität mit möglicherweise demselben Ergebnis? Ich tue mich schwer mit einer Antwort. Im Zweifel würde ich sagen, die Radioaktivität wäre wohl noch etwas schlimmer.

Ist es immer klar, ob ein AKW ein militärisches Ziel ist oder nicht?

Nein. Ein AKW kann auch doppelt genutzt werden, zivil und militärisch. Und es wird damit rechtlich gesehen zu einem sogenannten Dual-Use-Objekt, das vor Angriffen nicht per se geschützt ist. Aber wie erwähnt, bei AKW gibt es diesen Spezialschutz vor Angriffen, und zwar selbst, wenn sie militärisch genutzt werden, wegen der Verstrahlungsgefahr.

Das Gespräch führte Simone Hulliger.

Echo der Zeit, 23.08.2022, 18:00 Uhr ; 

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