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Zur aktuellen Lage in der Ukraine
Aus Tagesschau vom 10.03.2022.
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Krieg in der Ukraine So steht es um die Armeen von Russland und der Ukraine

Nach zwei Wochen Ukraine-Krieg mussten beide Seiten einstecken. Es ist ein blutiger Krieg. Wie steht es um den Zustand der beiden Armeen? Der Überblick – mit Militärhistoriker Michael M. Olsansky.

Michael M. Olsansky

Michael M. Olsansky

Militärexperte und -historiker

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Dr. Michael M. Olsansky ist Militärhistoriker und seit 2012 Dozent für Militärgeschichte an der Militärakademie (Milak) an der ETH Zürich. Seine Forschungsschwerpunkte sind die vergleichende Geschichte der Kriegführung und der Streitkräfteentwicklung sowie die transnationale Wissensgeschichte des Militärs im Zeitalter der Weltkriege.

Welche Armee hat seit Kriegsbeginn mehr Soldaten verloren? «Man geht bei der russischen Armee von einer mittleren bis hohen vierstelligen Zahl an Gefallenen aus», sagt Olsansky. Dafür habe man aber kaum verlässliche, unabhängige Bestätigungen, betont er. Die Ukraine selbst spricht von 10'000-11'000 gefallenen russischen Soldaten. Diese Zahl sei wohl übertrieben: «In allen Konflikten der Kriegsgeschichte waren die Angaben über die gegnerischen Verluste in der Regel zu hochgeschätzt.» Um die Verlustzahlen tobt auch eine Propaganda-Schlacht. Die Verluste der ukrainischen Armee dürften kaum tiefer sein, aber auch hier sind keine verifizierten Zahlen bekannt.

Zerstoerte Militaerfahrzeuge
Legende: Zerstörte russische Militärfahrzeuge auf einer Strasse in Borodjanka, in der Region Kiew. Reuters

Generell könne man festhalten: «Sehr hohe Verlustzahlen in nur zwei Wochen Krieg. Jeder derzeitigen westeuropäischen Armee würde das politisch, organisatorisch und strukturell das Genick brechen. Keine Armee wäre in der Lage, die Kampfhandlungen noch substanziell weiterzuführen.» Die russische Armee habe da grundsätzlich andere Personalressourcen.

Welche Streitkräfte konnten bisher mehr Erfolge verbuchen? «Bei der materiellen Ausrüstung hat die russische Armee offensichtlich sehr viel Grossgerät verloren, wie zum Beispiel Panzerfahrzeuge», sagt Olsansky. In gut informierten Kreisen gehe man davon aus, dass Russland 100-200 schwere Kampfpanzer und 20 bis 30 Kampfflugzeuge, und etliche Kampfhelikopter verloren haben könnte. Das seien aber ungesicherte Zahlen.

Nicht vergessen dürfe man aber, dass auch die ukrainische Armee einen Grossteil ihrer Kampfflugzeuge verloren habe. «Bisher hat die ukrainische Seite rein zahlenmässig wohl weniger Kriegsmaterial verloren als die russische Seite, am Boden wie in der Luft». Aber: Die Verluste im Bereich der Kampfflugzeuge schmerzen die Ukraine mehr. «Im Verhältnis zur Gesamtzahl der Luftwaffe schätze ich die Verluste eher höher ein als die der Russen. Die Luftwaffe der Ukrainer ist stark angeschlagen.»

Selenski bittet um Flugzeuge

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Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hat in den Vortagen wiederholt den Westen um Rüstungshilfe gebeten, allen voran um Kampfflugzeuge aus Osteuropa. Polen gab vor wenigen Tagen sein Einverständnis zur Lieferung von Kampfflugzeugen vom Typ Mig-29 an die USA, die diese der Ukraine zur Verfügung stellen könnten. Die ukrainische Armee hat Piloten, die diese Typen fliegen können.

Die US-Regierung lehnt die Lieferung der Mig-29-Kampfjets in die Ukraine wegen der Gefahr einer Eskalation des Konflikts mit Russland aber ab.

Die Forderung nach einer Flugverbotszone, die man militärisch durchsetzen müsse, hatten die USA zuvor schon zurückgewiesen. Das bedeute den dritten Weltkrieg. Auch der russische Machthaber Wladimir Putin äusserte sich dazu: Er würde die Einrichtung einer «No-Fly-Zone» als Kriegserklärung bewerten.

Sind Waffen-Zulieferungen vom Westen entscheidend? «Die Ukraine wird je länger je mehr darauf angewiesen sein. Denn ein wesentlicher Teil der ukrainischen Rüstungsindustrie liegt in der aktuell sehr umkämpften Ostukraine. Falls sie auf diese nicht mehr zugreifen könnten, bräuchte man eine konstante Versorgung an Waffen aus dem Westen.»

Diese Waffen bekommen die Ukraine

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Die westliche Waffenunterstützung besteht tendenziell aus Defensivwaffen wie Panzerfäusten oder Fliegerabwehrwaffen wie der berühmten Stinger. Über Angriffswaffen oder Lieferungen von schwerem Kampfgerät werde aktuell nicht gesprochen – auch aus politischen Gründen. «Grössere Waffensysteme wären auch nicht schnell genug operativ einsatzfähig», so Olsansky.

Welche Stärken zeichnet die russischen Truppen aus? «Die russische Armee zeigt sich momentan in kaum einem Bereich in wirklich überzeugender Verfassung», sagt Olsansky mit Nachdruck. Der grosse Vorteil der Russen sei jedoch die Feuerkraft ihrer Bodentruppen. «Allein durch ihre Artillerie können sie eine immense Feuerkraft aufbauen und gegnerische Stellungen tagelang unter Feuer nehmen.»

Welche Stärken zeichnet die ukrainischen Truppen aus? «Ihre grösste Stärke liegt im Infanteriekampf. 200'000 eingesetzten russische Soldaten stehen zum einen 200'000 ukrainischen Soldaten der Präsenzarmee von Anfang Jahr gegenüber.» Dazu kämen etwa 900'000 Reservisten, die aufgeboten werden können – und weitere freiwillige Ukrainer mit unterschiedlicher oder ganz ohne militärische Ausbildung.

Mobilmachung von Reservisten

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Der ukrainische Präsident Selenski hat am Tag der Invasion bereits eine Teilmobilmachung von Reservisten angekündigt - und 300'000 Reservisten einberufen. Der Druck auf die Exilukrainer ist damit auch gestiegen, sich freiwillig zu melden. Der Stellungsbefehl betrifft alle ehemaligen Soldaten, die seit 2014 in der ukrainischen Armee gedient haben. Wer sich nicht stellt, dem drohen bis zu zwölf Jahre Haft wegen Desertion.

Viele dieser Reservisten dürften sich in Polen befinden, wo sich bereits heute ein bis zwei Millionen ukrainische Gastarbeiter aufhalten. Gut über 60'000 Rückkehrer hätten sich bei den Rekrutierungsstellen gemeldet, vermeldete die Regierung in Kiew letzte Woche.

Seit der Verhängung des Kriegsrechts nach dem russischen Angriff vor knapp zwei Wochen dürfen Männer zwischen 18 und 60 Jahren die Ukraine nicht verlassen.

«Die Ukrainer zeigen sich sehr wehrhaft und kampfbereit, während man auf russischer Seite Berichte von tiefer Kampfmoral hört», sagt Olsansky.

Ist das Kräfteverhältnis für den Krieg entscheidend? «Man darf nicht vergessen: Die beiden Armeen bewegen sich zahlenmässig auf einem ganz anderen Level. Russland ist an sich eine militärische Grossmacht, die ukrainische Armee bewegt sich im Mittelfeld. Aber: Die einen greifen an, die anderen verteidigen.» Diese moralischen Faktoren wirken sich laut Olsansky auch auf die Kampfkraft aus. «Da geht es um die Existenz.» Russland hingegen müsse ein militärisches Minimalresultat erringen – alles andere könne sich weder Putin noch sein Sicherheitsapparat leisten.

Soldaten.
Legende: Die Überreste einer Rakete zu Beginn des Krieges in Kiew. Reuters

Die Prognose des Militärhistorikers: «Aktuell halte ich eine russische Staatspleite aufgrund der Wirtschaftssanktionen für viel wahrscheinlicher als eine Aufgabe des Kampfs um die Ukraine beziehungsweise einen russischen Rückzug.»

Ein vergleichbarer Krieg – und wie er ausging

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Legende: imago images

Aus Sicht des Militärhistorikers Michael Olsansky gebe es am ehesten beim sowjetisch-finnischen Winterkrieg zu Beginn des Zweiten Weltkriegs gewisse Parallelen zum Ukraine-Krieg.

Am 30. November 1939 sollte die sowjetische Roten Armee Finnland mit einem kurzen Feldzug besetzen und grössere Gebiete annektieren. Doch die Riesenarmee Stalins musste gegen einen unterlegenen Gegner schwere Verluste hinnehmen.

«Auch dort hatten sich die Finnen mit allem verteidigt, was sie hatten, mit jedem Reservisten. Heute wie damals gab es viele ausländische Freiwillige.» Auch wenn der Militärhistoriker diese generell für etwas überschätzt halte.

Im sowjetisch-finnischen Winterkrieg konnte sich am Ende dennoch das russische Militär durchsetzen. «Aber man konnte durch die Wehrhaftigkeit die Weiterexistenz des Staates sichern».

Erst im Februar 1940 gelang der Roten Armee ein Durchbruch, woraufhin sich die finnische Regierung zu Waffenstillstandsverhandlungen und einem Friedensschluss am 13. März gezwungen sah. Finnland musste zwar grössere Gebietsverluste einstreichen, es konnte aber seine politische Souveränität wahren.

Tagesschau, 10.3.22, 12:45

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