Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs verkündete Francis Fukuyama das «Ende der Geschichte». Der westliche Liberalismus, so die These des US-Politikwissenschaftlers, habe gesiegt. Die Welt werde nun nach den Prinzipien von Demokratie und freier Marktwirtschaft organisiert.
25 Jahre später tritt ein amerikanischer Präsident mit dem Versprechen an, die Globalisierung durch Protektionismus einzudämmen; in Russland, China oder der Türkei ist vom «Wind of Change», der die Welt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion durchwehte, nichts mehr zu spüren; in Syrien kämpfen selbsterklärte Welt- und aufstrebende Regionalmächte um Einflusssphären.
Wir erleben derzeit das Ende vom Ende der Geschichte.
Kriege, auf Konfrontation gebürstete Mächte, Abkehr vom Liberalismus: Wirtschaftlich, militärisch und machtpolitisch sind aus alten Gewissheiten neue Unwägbarkeiten geworden.
Das westliche Ordnungssystem sei auf dem Rückzug, das amerikanische Jahrhundert gehe zu Ende, diagnostiziert ETH-Sicherheitsexperte Andreas Wenger: «Die seit dem Zweiten Weltkrieg gültige, stark von den USA dominierte Weltordnung ist im Übergang begriffen. Die Gewissheit, dass es eine einheitliche, kohärente Weltordnung gibt, ist infrage gestellt.»
Zeiten des Umbruchs rufen Untergangspropheten auf den Plan. Doch nicht nur sie warnen vor einem heraufziehenden grossen Krieg. Der Historiker Christopher Clark zeichnete in seinem Beststeller «Die Schlafwandler» nach, wie Europa in den Ersten Weltkrieg taumelte. Clark warnte – wie der verstorbene Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt – während der Ukraine-Krise davor, dass wieder Schlafwandler unterwegs seien.
Doch genügt ein Funke tatsächlich, um die Welt zur Explosion zu bringen? Wenger relativiert: «Die heutige Situation lässt sich nicht mit der vor dem Ersten oder Zweiten Weltkrieg vergleichen. Man muss keinen grossflächigen Krieg zwischen den Mächten befürchten.»
Die grosse allgemeine Verunsicherung
Seit dem Weltenbrand von damals seien zwischenstaatliche Kriege zu einem «sehr seltenen Phänomen» geworden, so der Sicherheitsexperte. Aber: «Die Welt ist unberechenbarer geworden. Die internationale Politik ändert sich heute sehr schnell», sagt Wenger.
Und auch im Innern der Staaten vollziehe sich der Wandel ungleich schneller als damals – gesellschaftlich, politisch, wirtschaftlich. Zumal auch die westlichen Staaten vor «Veränderungsdruck» nicht gefeit seien: «Mit Blick auf die Globalisierung macht sich auch bei uns Verunsicherung bemerkbar.»
Mitten in diese Verunsicherung sei der unberechenbare Donald Trump getreten. Mit Folgen weit über den Westen hinaus: China mit Präsident Xi Jinping wolle das Machtvakuum nutzen und sich als Stabilitätsgarant positionieren.
Die westliche Wertegemeinschaft: Nur eine von vielen
Das Erstarken autokratisch bis totalitär geführter Staaten zeigt für Wenger auch: Fukuyamas Vorstellung, dass das westliche Modell am attraktivsten und deswegen am erfolgreichsten sei, hat sich als trügerisch erwiesen: «Wir erleben derzeit das Ende vom Ende der Geschichte.» Es gebe nicht mehr nur die eine Sicht, wie die internationale Ordnung organisiert werden soll: «Es gibt wieder mehrere, konkurrierende Vorstellungen.»
Die Geopolitik – die Beziehungen zwischen den Grossmächten – erlebt eine Renaissance.
Heisst etwa: Wie «universell» die Menschenrechte langfristig wirklich sind, ist auf dem Prüfstand: «Diesbezüglich unterscheiden sich die chinesischen Vorstellungen von unseren», sagt Wenger. Auch im arabischen Raum kollidierten Vorstellungen, etwa wenn es um die Rechte der Frauen gehe, mit dem westlichen Werteverständnis.
Das grosse Spiel der Mächte
Und auch die Institutionen wanken. In den «goldenen 1990er-Jahren der Globalisierung» schien es, so Wenger, als würde auch die Geopolitik zu Grabe getragen. Mit dem Wechsel zu einer multipolaren Weltordnung gehe nun eine Schwächung der internationalen Organisationen einher: «Dafür erlebt die Geopolitik – die Beziehungen zwischen den Grossmächten – eine Renaissance.»
Vor allem China spiele eine immer grössere Rolle, während Europa um seine weltpolitische Stellung ringe. Allerdings sei auch der «Faktor Russland» zu beachten. Der Kreml versuche bewusst, sich als «alternativer Pol» in der internationalen Politik zu etablieren, «und dies mit dem Willen und der Bereitschaft, ganz gezielt zu provozieren.»
Es wird versucht, internationale Organisationen für die eigenen Interessen zu manipulieren; es werden eigene Regionalorganisationen aufgebaut; der Handel wird politisiert.
Das Quartett der Weltmächte vertrete unterschiedlichen Charaktere, politische Institutionen und Werte. Die gute Nachricht: «Alle sind zur Zusammenarbeit verdammt», sagt der ETH-Forscher. Die künftige sicherheitspolitische Grosswetterlage wird für Wenger entscheidend davon geprägt werden, wie eben dies gelingt – vor allem zwischen Washington und Peking.
Trump bezeichnet China in seiner nationalen Sicherheitsstrategie als «revisionistische Macht» – womit der US-Präsident durchaus recht habe, so Wenger: «China hat das Gefühl, dass es nach 200 Jahren Unterdrückung zurück zu alter Grösse findet.»
Die Welt nach Trump und Putin
Wengers Ausführungen machen klar: Sicherheitspolitik geht weit über das Militärische hinaus. Zwar drehe sich die Rüstungsspirale derzeit rasant – Re-Nuklearisierung, der Einsatz von Robotern und künstlicher Intelligenz zu militärischen Zwecken. «Gleichzeitig wird aber versucht, internationale Organisationen für die eigenen Interessen zu manipulieren; es werden eigene Regionalorganisationen aufgebaut; der Handel wird politisiert.»
Abschliessend wagt Wenger einen Blick an den weltpolitischen Horizont: «Während China sehr langfristig plant, stellt sich bei Russland die Frage: Was passiert, wenn Putin geht?» Auch die Frage, ob das «Phänomen Trump» überdauert, sei unbeantwortet. Und wohin das chronisch mit sich selbst beschäftigte Europa steuere, ebenfalls.
Klar ist für den ETH-Forscher nur: Der «Moment des Übergangs» wird andauern – mit ungewissem Ausgang.