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Kriegsverbrecher auf der Spur? Ex-Geheimdienstler des syrischen Regimes lebt in der Schweiz

Eingefallenes Gesicht, schütteres Haar, zitternde Hände: ein Kriegsverletzter in einem Schweizer Krankenbett, querschnittgelähmt. Kettenrauchend. Spricht er von seiner greisen Mutter in der Heimat, so beginnt er zu weinen. Das soll ein Kriegsverbrecher sein?

Diese Frage stellt sich, nachdem SRF-Recherchen ergaben: Der Mann wird in Socialmedia-Foren als Held gefeiert, für seine angeblichen Verdienste als «Soldat» fürs syrische Vaterland. Im Gespräch mit 10vor10 bestätigt er: Ja, er sei beim syrischen Militärgeheimdienst gewesen, über 25 Jahre lang. Aber: Er sei zivil angestellt und nur als Fahrer von Nachschub tätig gewesen. Gekämpft habe er nie.

Loyal gegenüber Al-Assad

Der Militärgeheimdienst Syriens war gemäss Guido Steinberg von der Stiftung für Wissenschaft und Politik SWP in Berlin massgeblich an der Niederschlagung der Proteste ab 2011 beteiligt.

10vor10 hat den Ex-Militärgeheimdienstler in der Nordwestschweiz in einer Institution für Körperbehinderte getroffen und mithilfe eines Übersetzers ein Gespräch geführt. Der 64-Jährige bezeichnet es als normal, dass Oppositionelle verhaftet und gefoltert würden. Selbst habe er aber nie Hand angelegt. Gegenüber Präsident Bashar Al-Assad zeigt er sich nach wie vor loyal.

Staatssekretariat für Migration äussert sich nicht

Der Mann lebt nach eigenen Angaben seit 2016 in der Schweiz, zusammen mit seiner Frau. Verletzt worden sei er während einer Versorgungsfahrt Ende 2012. Eine Kugel habe seine Wirbelsäule getroffen. Zunächst sei er in Syrien behandelt worden, dann habe er mithilfe von Verwandten über Libanon in die Schweiz reisen können. Hier sei er als Asylsuchender vorläufig aufgenommen und sechsmal operiert worden.

In den Befragungen durch Schweizer Behörden habe er offengelegt, beim syrischen Militärgeheimdienst angestellt gewesen zu sein. Das lässt sich nicht überprüfen, da sich das Staatssekretariat für Migration SEM nicht zu Einzelfällen äussert.

Die Zürcher Rechtsanwältin Nina Burri, spezialisiert auf Völkerstrafrecht, sagt, die Schweiz sei nach internationalen Verträgen verpflichtet, entsprechenden Verdachtsmomenten nachzugehen.

Die Bundesanwaltschaft (BA) teilt auf Anfrage mit, sie sei «in diesem Zusammenhang» nicht befasst. Es läuft also kein Völkerrechtsstrafverfahren der BA gegen ihn. Andere Verfahren im Völkerstrafrecht sind hängig (siehe Box).

Völkerstrafrecht: Andere Verfahren sind hängig

Box aufklappen Box zuklappen

Zwei andere Verfahren im Zusammenhang mit dem Syrienkonflikt ab 2011 sind hängig, es handelt sich dabei um Fälle, die die «NZZ am Sonntag» 2019 publik gemacht hatte. Details dazu gibt die Bundesanwaltschaft (BA) nicht bekannt. Kein Strafverfahren läuft offensichtlich im Fall des ehemaligen syrischen Geheimdienst-Kaders , den die Rundschau 2018 aufgedeckt hatte.

Wiederholt wurde die Bundesanwaltschaft kritisiert , sie würde dem Völkerstrafrecht zu wenig Ressourcen zukommen lassen, die zuständige Abteilung sei zu klein. In einem Beitrag für die Zeitung «Le Temps» hat die sich die Leiterin der Abteilung Rechtshilfe und Völkerstrafrecht, Miriam Spittler, kürzlich dagegen gewehrt. Man führe derzeit knapp fünfzehn Strafverfahren , hinzu kommen Fälle im Stadium der Ermittlung in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Polizei Fedpol.

Die Verfolgung von Völkerstrafrechtsverbrechen ist seit Anfang 2011 in Bundeskompetenz – also ein eher junges Deliktsfeld für die BA. Am 18. Juni 2021 konnte die BA einen ersten Erfolg vor Gericht verbuchen: Das Bundesstrafgericht sprach ein ehemaliges Mitglied einer liberianischen Rebellenfraktion schuldig.

Wie die Staatsanwältin des Bundes, Miriam Spittler, weiter schreibt, bestünden einige spezielle Hürden bei solchen Ermittlungen : Die Ereignisse würden oft zeitlich weit zurückliegen, seien geografisch weit weg geschehen, Rechtshilfe des betroffenen Staats oft nicht zu erwarten. Meistens müsse sich in der Beweisführung hauptsächlich auf Aussagen von Zeuginnen und Zeugen abstützen.

Als ziviler Fahrer beim Militärgeheimdienst – die Aussagen seien zumindest infrage zu stellen, sagt Syrien-Experte Steinberg. Umso mehr, wenn man sich der familiären Bande des Mannes bewusst werde. Denn, so sagte der Syrer selbst: Fast alle Männer seiner Verwandtschaft hätten im Militärgeheimdienst Karriere gemacht. Einer bis ganz an die Spitze: Als Kommandant des berüchtigten Geheimdienstes im ehemals von Syrien besetzten Libanon. Ihn bezeichnet der Mann im Schweizer Krankenbett ehrfürchtig als «Onkel».

Der Mann will nach Syrien zurückreisen

Hält sich mit dem ehemaligen Militärgeheimdienstler ein möglicher Kriegsverbrecher in der Schweiz auf, ohne strafrechtlich verfolgt zu werden? Sind die Hinweise für ein Strafverfahren schlicht zu dünn? Andere Fälle wichtiger?

Wie weit diese Fragen von den Behörden allenfalls abgeklärt wurden, ist öffentlich nicht bekannt. Eines steht fest: Will man sie jetzt noch aufklären, so drängt die Zeit. Der Mann will nach Syrien zurückreisen. Die Koffer in seinem Zimmer im Wohnheim sind gepackt.

10vor10, 30.08.2021, 21:50 Uhr

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