Darum geht es: In Japan kämpft die Polizei zurzeit gegen eine neue kriminelle Bedrohung an: die Tokuryu. Diese Gruppen sollen angeblich auf dem Vormarsch sein und die japanische Mafia – auch Yakuza genannt – ablösen.
Das bedeutet der Begriff «Tokuryu»: Der Begriff wird aus zwei japanischen Wörtern zusammengesetzt: «tokumei» und «ryudo» – zu Deutsch «anonym» und «fliessend». Das bezieht sich auf die Eigenheiten dieser Halbgangster, nämlich dass sie nicht als feste Bande operieren. Sie organisieren sich kurzfristig über das Darknet für einzelne Straftaten und schliessen sich nur vorübergehend zusammen. Häufig kannten sie sich vorher nicht – und danach gehen sie wieder auseinander.
Das sind die Mitglieder: «Bei den Mitgliedern der Tokuryu handelt es sich fast ausschliesslich um junge Männer, die arbeitslos und arm sind oder diskriminiert werden», sagt Martin Fritz, freier Journalist in Tokio. In sozialen Medien würden sie damit prahlen, dass sie sich nur für Geld, Alkohol und Frauen interessierten. «Sie stehen als Auftragsverbrecher bereit. Vor einem Jahr zum Beispiel rekrutierte ein Auftraggeber 16- bis 19-Jährige über eine Anzeige im Darknet. Anschliessend haben sie für ihn ein Juweliergeschäft mitten in Tokio überfallen.» Der Auftraggeber sei bis heute unbekannt, meint Fritz.
Unterschied zur Yakuza: Die Yakuza sind klassische Verbrecherbanden. Im Westen sind diese besonders durch japanische Gangsterfilme bekannt. Es handelt sich dabei um organisierte Banden mit einer hierarchischen Struktur und einem Sozialkodex. Dieser besagt, dass Yakuza-Verbrechen keine Leute aus der restlichen Gesellschaft betreffen sollten. Die Tokuryu hingegen sind nicht organisiert: «Das sind unabhängige Einzelunternehmer, die zu jeder Schandtat bereit sind», sagt Fritz. Ob bei Raubüberfällen oder Einbrüchen, eine «Moral» sei nicht vorhanden. «Genau deswegen ist die Polizei so alarmiert. Die Bürger fühlen sich weniger sicher.»
Die Yakuza im Niedergang: Die Zahl der Mitglieder der traditionellen Yakuza ist von etwa 100'000 Mitgliedern in den letzten dreissig Jahren auf etwa 20'000 geschrumpft. «Das liegt an den Anti-Yakuza-Gesetzen und -Verordnungen. Ein Bandenmitglied kann heute keine Wohnung mehr mieten, kein Bankkonto eröffnen, nicht einmal einen Mobiltelefonvertrag abschliessen», meint Fritz. Zudem erhielten halblegale Yakuza-Firmen, beispielsweise Bauunternehmen, keine Aufträge mehr. «Junge Leute im Verbrechermilieu werden deshalb nicht mehr Mitglied der Yakuza, sondern verdingen sich als unabhängige Halbgangster.» Die Yakuza verschwinden gemäss Fritz aber nicht ganz. Oft seien es nämlich Yakuza-Mitglieder, die dann diese neuen Halbgangster mit Straftaten beauftragten. Die Polizei spreche dann von Hybridverbrechen.
Das unternimmt die Polizei dagegen: Die Nationale Polizeibehörde (NPA) hat im April mit 500 Ermittlern in sieben Präfekturen – Tokyo, Saitama, Chiba, Kanagawa, Aichi, Osaka und Fukuoka – eine gemeinsame Ermittlungseinheit eingerichtet. Auch die japanische Regierung hat mittlerweile reagiert. Im März 2023 hatte Premierminister Fumio Kishida ein hartes Vorgehen gegen diese Art von Verbrechen angeordnet. Die Identifizierung der Drahtzieher dieser Verbrechen erweist sich jedoch als schwierig. Der technologische Fortschritt und die Verwendung von Wegwerftelefonen und -nummern ermöglicht es ihnen, anonym zu bleiben.