Historische Niederlagen allenthalben: Eigentlich galt doch 2017 schon als Schreckensjahr der Sozialdemokratie. Der Parti socialiste in Frankreich löste sich binnen Monaten quasi auf. In Deutschland und Österreich verzeichneten die SPD und die SPÖ das schlechteste Ergebnis in ihrer jüngeren Geschichte. Und jetzt also auch der Partito Democratico (PD). Mit rund 19 Prozent bei den Wahlen vom Sonntag sorgt die Regierungspartei von Ministerpäsident Paolo Gentiloni und Parteichef Matteo Renzi ebenfalls für einen Negativrekord in der Geschichte des PDs. Die Frage drängt sich auf, ob die Sozialdemokratie in Westeuropa dem Ende zugeht – jetzt, da die Genossen rund um die Schweiz an der Urne einbrechen.
Eine Krise, kein Ende: Der Parteienforschers Hanspeter Kriesi beschäftigt sich mit Unterschieden und Gemeinsamkeiten im Schicksal der Parteienfamilien Europas. «Schreiben Sie die Sozialdemokraten nicht ab», lautet sein Urteil zur aktuellen Krise. Zwar sehe sich die Parteifamilie mit grundlegenden Herausforderungen konfrontiert. Doch diese bedeuten nicht zwingend das Ende des sozialdemokratischen Modells. Der Schweizer lehrt und forscht am renommierten European University Institute in Florenz. Er sieht drei Gründe für die historische Niederlage der Sozialdemokraten in seiner Wahlheimat Italien.
Stagnation und hohe Arbeitslosigkeit: Der italienischen Wirtschaft geht es besser als auch schon. Doch bei den Menschen sei der leichte Aufschwung noch nicht angekommen, so Kriesi. «Auch wenn der PD versuchte, im Vorfeld der Wahlen mit den bescheidenen wirtschaftlichen Erfolgen Kampagne zu machen: Italien stagniert noch immer. Besonders der Süden leidet an hoher Arbeitslosigkeit. Und in solchen Situationen wird die Regierungspartei abgestraft. Das ist normal». Der Politikwissenschaftler, der lange an der Universität Zürich lehrte, erzählt engagiert, wie Tausende junger Italiener zuweilen um wenige Stellen konkurrieren würden.
Populistischer Diskurs auf Kosten der Etablierten: Die politische Elite in Italien geniesst einen schlechten Ruf. Und die Unzufriedenheit mit «La Casta», der Kaste, sei der zweite Grund, weshalb der PD verloren habe, sagt Kriesi. «Denn zur politischen Elite gehört für viele Italiener eben nicht nur Silvio Berlusconi, sondern auch die regierenden Sozialdemokraten mit Parteichef Renzi.» Der Movimento 5 Stelle wurde im Wahlkampf nicht müde, mittels populistischem Diskurs, die Genossen auch als solche Elite zu brandmarken, stellt Kriesi fest. «5 Stelle hat nur ein Thema: Die politische Krise in Italien. Die korrumpierte Elite.» Offensichtlich eine Erfolgstrategie im von Korruption und Misswirtschaft gebeutelten Italien. Die von Komiker Beppe Grillo gegründete Bewegung erzielte mit Spitzenkandidat Luigi di Maio das beste Einzelresultat in den aktuellen Wahlen – auf Kosten der etablierten Parteien.
Spagat zwischen traditioneller Arbeiterpartei und Neuer Linker : Der dritte entscheidende Faktor für die historische Niederlage der italienischen Genossen sei letztlich beim Thema Migration zu finden. «Die Frage ist in Italien sehr virulent, vielleicht stärker als das dem Rest Europas bewusst ist. Die Bilder von Menschen in Gummibooten prägen die Agenda.» Problematisch für den PD sei gemäss dem Experten, dass die Partei mit ihrer Politik für eine multikulturelle Gesellschaft viele Stammwähler vergraule. Die Arbeiterschaft denke vorwiegend nationalistisch und halte wenig von offenen Grenzen. «Ein Spagat zwischen einer nationalistischen Arbeiterschaft und einer multikulturellen Mittelschicht, der auch anderen Sozialdemokratien Europas nicht gelingt», bemerkt Kriesi.
Europa kaum ein Thema: In der drittgrössten Volkswirtschaft der Euro-Zone gewannen am Sonntag Euroskeptiker die Wahl. Verständlich, dass bei diesem Wahlresultat viele Pro-Europäer nervös reagieren. Doch das Wahlresultat müsse nicht primär als Absage der Italiener an die pro-europäische Politik der Sozialdemokraten verstanden werden, meint Kriesi. «Im italienischen Wahlkampf war Europa kaum ein Thema. Die Euroskeptiker haben wohl ein Szenario wie in Frankreich gefürchtet, wo Marine Le Pen mit ihrer Anti-EU-Politik gegen Macron nicht reüssieren konnte.» Gegenüber Brüssel und dem Euro traten der Movimento 5 Stelle und die Lega im Wahlkampf denn auch gemässigter auf als noch in der Vergangenheit.
Kaum noch rote Wahlkreise: Ohne eingehende Untersuchungen ist es am zweiten Tag nach der Wahl verfrüht, ein fundiertes Urteil über Wählerwanderungen abzugeben. Dennoch lassen sich geografische Auffälligkeiten im Wahlresultat beobachten. Im Süden, wo die wirtschaftliche und soziale Situation für die Menschen noch immer prekär ist, gewinnt die Protestpartei 5 Stelle. Sie setzte auf das Misstrauen in die etablierten Institutionen und in die Politiker. Im Norden gewinnt die rechts-nationale Lega unter Matteo Salvini mit einer migrationskritischen Kampagne. Die Lega kann selbst in den Stammlanden des Partito Democratico feiern, der Emilia-Romagna. Rote Wahlkreise gibt es in Italien nur noch wenige.
Im Süden führt der Weg aus der Krise über links: Kriesi ist der Ansicht, dass das Schicksal der Sozialdemokratien Europas trotz einer Reihe an Niederlagen nicht über einen Kamm geschert werden darf. Einerseits gab es jüngst auch Erfolge zu verbuchen – etwa in Portugal oder Grossbritannien. Zudem seien die bestehenden Herausforderungen für die etablierte Linke nicht überall in Europa gleich geartet. In Südeuropa hätten sich im Zuge der Wirtschaftskrise starke neue Parteien links der Sozialdemokratie etablieren können. «Diese haben sich mit der Zeit wieder gemässigt und haben heute ein ähnliches Profil wie die Sozialdemokraten früher». Gemeint sind etwa die Syriza in Griechenland sowie Podemos in Spanien. Der Weg aus der Krise führe in Südeuropa über links, glaubt Kriesi.
Im Norden im Clinch: In Nord-Westeuropa präsentiere sich die Lage etwas anders. «Es sind kulturelle Fragen, die in diesen Ländern neben wirtschaftlichen Themen den Parteienwettbewerb prägen», sagt Kriesi. Also etwa gesellschaftspolitische Themen und der Dauerbrenner Migration, der in so vielen europäischen Wahlkämpfen von Bedeutung war. Gemäss Kriesi muss sich die europäische Sozialdemokratie diesbezüglich durchaus die grundlegenden Fragen stellen, wie sie ihre Klientel aus gesellschaftlich Liberalen und einer eher national-konservativen Arbeiterschaft vereinen könnte. Auch Norditalien ticke diesbezüglich immer mehr wie der Norden Europas, meint der Politologe. Und auch dort zeige sich, dass der Linken dies nicht gelingt.
Der Einfluss der Köpfe: Schliesslich habe die Parteiführung des PD in der Vergangenheit auch entscheidende Fehler gemacht, konstatiert der Experte. Es lasse sich nicht alles mit strukturellen Ansätzen erklären. Der Politikwissenschaftler nennt insbesondere zwei Fehler, die der scheidende Renzi mitzuverantworten habe. Erstens habe sich der PD von der Niederlage bei der Abstimmung über das Verfassungsreferendum noch nicht erholt, das Renzi veranlasst hatte. Seither hafte ihm ein «Verlierer-Image» an, von welchem er sich nicht mehr lösen konnte. Zweitens nennt Kriesi die Abspaltung des linken Flügels von der PD, der auf Streitigkeiten zwischen der Führungsriege um Renzi und dem früheren Parteivorsitzenden um Pier Luigi Bersani zurückzuführen sei. «Das hat der Partei bestimmt nicht geholfen,» so das Resümee Kriesis über die Ära-Renzi.