Wir stellen oft die falschen Fragen, findet Ivan Krastev. Zum Beispiel die: Wann nähert sich Russland wieder dem Westen an? Die richtige Frage wäre: Warum nähert sich der Westen dem autoritären System Russlands an? Es sei offenkundig, dass für viele westliche Regierungen – von jener Donald Trumps in Washington bis zu jenen in Budapest oder Warschau – Russland ein zunehmend attraktives Modell sei. Allerdings: Als attraktiv wahrgenommen werde nicht so sehr Russland, sondern Wladimir Putin.
Bürger in westlichen Demokratien sind zwar freier als früher – aber machtloser.
Krastev diagnostiziert zurzeit ein fast schon obsessives Interesse an Russland. Bei den einen gründe es in tiefer Abneigung, bei den andern in unverhohlener Bewunderung. Viele Beispiele zeigten, wie westliche Demokratien Moskau imitierten, wie sich die Grenze zwischen Autokratie und Demokratie verwische.
Etwa die USA, die nun genauso wie Russland internationale Medien als «ausländische Agenten» brandmarkten. Oder allenthalben Bestrebungen, wieder auf kontrollierte Grenzen zu pochen und zu unterscheiden zwischen «uns» und «den anderen».
Drei Hauptgründe
Krastev sieht drei Gründe für den Trend, der zurzeit entschieden gegen das westliche, demokratische und rechtsstaatliche Modell läuft.
1. Das Internet und die sozialen Medien: Noch vor fünf Jahren habe man darin ein Instrument gesehen, das den Bürgern mehr Macht in die Hand gebe. Tatsächlich zeige sich inzwischen, dass das Gegenteil der Fall sei. Am meisten nützten die neuen digitalen Möglichkeiten den autokratischen Regimen. Dazu komme: Je wichtiger Roboter werden, desto unwichtiger wird der Mensch. Und Roboter, so Krastev, fordern keine Demokratie, keine Mitsprache.
2. Die Globalisierung: Regierungen haben die Kontrolle über Wirtschaft, Finanzbranche, Handel und Grenzen verloren. Die Menschen merken, dass ihre Wählerstimme kann vieles gar nicht mehr beeinflussen. «Bürger in westlichen Demokratien sind zwar freier als früher – aber machtloser», sagt Krastev.
3. Die Zuwanderung: Sie wird, ist Krastev überzeugt, noch massiv zunehmen. Milliarden von Menschen in schlecht regierten Drittweltländern wissen: Wollen sie ihre Lebensumstände verbessern, dann ist es einfacher auszuwandern, als im eigenen Land für Veränderungen zu kämpfen. «Für jemanden, der in einem armen, schlecht regierten Land lebt und sein Leben ändern möchte gilt: Wechsle besser das Land als die Regierung», sagt Krastev.
Für jemanden, der in einem armen, schlecht regierten Land lebt und sein Leben ändern möchte gilt: Wechsle besser das Land als die Regierung.
Auch bei der Migration führe die Politik bloss noch Rückzugsgefechte. Steuern könne sie kaum. All das führt zu einem Gefühl der Ohnmacht bei vielen Menschen. Zu prononciertem Nationalismus. Und zu einer Blüte für Links-, hauptsächlich aber für Rechtspopulisten.
Polarisierte Gesellschaften
Die Wahl von Populisten sei, so Krastev, nichts anderes als der verzweifelte, aber aussichtslose Versuch, das Primat der Politik zurückzuerobern. Weil das nicht gelingt, wächst die Frustration. Gesellschaften sind immer tiefer gespalten. In den USA lehnt es mittlerweile ein grosser Teil der Anhänger von Republikanern und Demokraten entschieden ab, dass ihre Söhne und Töchter jemanden aus dem andern politischen Lager heiraten.
Gespaltene, polarisierte Gesellschaften sind unfähig zu Kompromissen. Sie sind blockiert. Deshalb kann die Demokratie ihre traditionelle Stärke gegenüber autoritären Regimen nicht mehr ausspielen, nämlich die Fähigkeit zur Selbstkorrektur.
Ist der bulgarische Politologe damit der «Dr. Doom» der Politik, der Untergangsprophet der Demokratie? Er selber sieht sich nicht so. Zumal er das, was er analysiert, durchaus nicht gut findet. Vor allem aber sieht er die Geschichte nicht als Einbahnstrasse. Wir seien völlig falsch gelegen, als wir am Ende des Kalten Krieges an den allmählichen weltweiten Siegeszug der Demokratie glaubten.
Jetzt könnten wir ebenso falsch liegen, wenn wir den Triumph der Autokratie über die Demokratie als unvermeidlich anschauten. Denn der Lauf der Zeit sei ein Auf und Ab, ein Vor und Zurück. Auch der aktuell kräftige Aufwind für autoritäre Tendenzen halte kaum ewig an. Man darf also noch hoffen.
Übertreibt Ivan Krastev? Drei Fragen an Fredy Gsteiger
SRF News: Krastev sagt, westliche Demokratien wie die USA versuchten, das autoritäre Russland zu imitieren. Ist das nicht übertrieben?
Fredy Gsteiger: Krastevs Aussage ist zweifellos zugespitzt. Aber eine weit verbreitete Desillusionierung mit dem demokratisch-rechtsstaatlichen Modell ist offenkundig. Was sich besonders im Auftrieb für links- und rechtspopulistische Parteien äussert. Und im sogenannten «Wutbürgertum». Viele Menschen, auch in demokratischen Ländern, wünschen sich durchsetzungsfähige Regierungen und Führer, die zum Beispiel die Grenzen für Immigranten schliessen, die wirtschaftlichen Protektionismus durchsetzen.
Es scheint auch, dass gerade in den USA manche Vertreter des Grosskapitals beeindruckt sind vom autoritären, aber ihrer Ansicht nach sehr effizienten chinesischen Modell und demokratische Kontrolle und «Checks and Balances» eher als lästig ansehen.
Das demokratische, rechtsstaatliche Staatsmodell sei in Gefahr. Ist es das wirklich?
Jedenfalls gibt es in den letzten zehn Jahren weltweit betrachtet mehr negative als positive Entwicklungen. Die Nichtregierungsorganisation Freedom House erstellt jährlich einen Überblick darüber, welche Länder frei, halbfrei oder unfrei sind. Bis vor einigen Jahren lief der Trend zugunsten freiheitlich-demokratischer Systeme. Inzwischen jedoch haben unfreie, autoritäre Regime Oberwasser.
Auch die Medienfreiheit ist, global betrachtet, zunehmend in Bedrängnis. Und selbst in Europa sind etwa Russland oder die Türkei nach einer Phase der Demokratisierung wieder auf stark autoritärem Kurs. Und in der EU gibt es zum Beispiel in Polen oder Ungarn autoritäre Tendenzen. Unabhängige, regierungskritische Medien geraten dort unter Druck, die Justiz wird ans Gängelband genommen. Das demokratisch-rechtsstaatliche Modell ist zwar nicht überall in Gefahr, aber vielerorts unter Druck.
Als Gründe für den Trend gegen das westliche Modell sieht Krastev das Internet, die Globalisierung und die Zuwanderung. Bedrohen diese Dinge tatsächlich die Demokratie?
Internet, Globalisierung und Zuwanderung erschweren es Regierungen, einen Nationalstaat wirklich souverän zu regieren. Viele Einflüsse – Umweltkrisen, Finanzmarktblasen – sind national kaum noch steuerbar. Es bräuchte mehr internationale Kooperation und Übereinstimmung. Doch daran fehlt es oft. Regierungen wirken dann hilflos, ohnmächtig. Und sind es oft auch. Die Wähler sind von ihnen enttäuscht, sind frustriert. Manche setzen auf Rechts- oder Linkspopulisten.
Die Gräben zwischen den Bevölkerungsgruppen werden grösser, der Ton der Auseinandersetzung härter, Kompromisse sind schwerer zu erreichen, Brückenbauer sind rar – wie zurzeit das Beispiel USA sehr gut zeigt. All das höhlt die Demokratie auf Dauer aus.