Es passierte vor drei Monaten, vor einem Sikh-Gebetshaus in Vancouver: Zwei Maskierte schossen auf den Sikh-Aktivisten Hardeep Singh Nijjar und töteten ihn. Premierminister Justin Trudeau ist sich offenbar ziemlich sicher, dass der indische Staat involviert war. Denn er wählte eine grosse öffentliche Bühne, um seine Anschuldigungen vorzubringen: das kanadische Parlament.
Trudeau wird nicht konkret
In den vergangenen Wochen hätten die Ermittler glaubwürdige Vorwürfe untersucht, wonach es eine mögliche Verbindung gebe zwischen Agenten des indischen Staates und des Mordes an Hardeep Sing Nijar, so Trudeau.
Konkrete Beweise oder Indizien nannte Trudeau nicht, wurde aber deutlich: Eine Regierung, die bei der Tötung eines Kanadiers auf kanadischem Boden ihre Finger im Spiel habe, verletze auf inakzeptable Weise die kanadische Souveränität. Das verstosse gegen die fundamentalen Regeln einer freien, offenen und demokratischen Gesellschaft.
Gewaltsame Vorgeschichte
Indien hat zumindest ein Motiv: In den 1980er- und 1990er-Jahren ging Indien mit viel Gewalt gegen bewaffnete Sikh-Separatisten im eigenen Land vor – im Landesteil Punjab, wo die Sikh-Religion entstanden war. Die Sikh-Separatisten wiederum schreckten auch nicht vor Gewalt zurück.
Die indische Premierministerin Indira Ghandi wurde 1984 von zwei Sikhs ermordet. Im Ausland, auch in Kanada, lebt die Separatistenbewegung weiter: Hardeep Singh Nijjar war ein lautstarker Advokat für die Schaffung eines Sikh-Staates namens Khalistan.
Indien nannte ihn einen Terroristen. Doch die Mord-Anschuldigungen aus Ottawa seien absurd und politisch motiviert, heisst es aus Neu-Delhi. Vielmehr sei Kanada das Problem, denn es biete solchen Extremisten und Terroristen Unterschlupf und lasse sie gewähren.
Politische Rolle der Sikhs in Kanada
Tatsächlich leben etwa 770'000 Sikhs in Kanada. Sie machen damit rund zwei Prozent der Bevölkerung aus. Besonders die Männer fallen mit ihren langen Bärten und Turbanen auf. Diese Minderheit hat auch politisches Gewicht: Als Trudeau 2015 Regierungschef wurde, gehörten vier Sikhs zu seinen Ministern.
Im kanadischen Parlament sitzen heute 15 Sikhs, die meisten in Trudeaus liberaler Partei. Jagmeet Singh, ein Sikh, ist Parteichef der New Democratic Party. Diese sorgt dafür, dass Trudeau, dessen Partei keine Mehrheit hat, an der Macht bleibt.
Frostige Atmosphäre am G20-Gipfel
Dass Sikhs in Kanada lautstark einen eigenen Staat fordern, sorgt längst für böses Blut zwischen Indien und Kanada. Ein kurzes Gespräch zwischen Trudeau und Indiens Premierminister Narendra Modi am Rande des G20-Gipfels in Neu-Delhi war frostig. Verhandlungen über ein Handelsabkommen wurden ausgesetzt.
Kanada hat zudem einen Inder ausgewiesen, der dem indischen Geheimdienst angehöre. Indien hat seinerseits einen kanadischen Diplomaten des Landes verwiesen. Es wird dauern, bis diese Beziehungen normalisiert sind.