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Kritik am NSU-Prozess «Es ist ein Staat im Staat zugelassen worden»

Beate Zschäpe erhält für die Mittäterschaft bei zehn rechtsextremistischen Morden lebenslänglich, die vier Mitangeklagten mehrjährige Freiheitsstrafen. Diese Urteile hat das Oberlandesgericht München gefällt. Der Politologe Hajo Funke hat sich intensiv mit dem NSU-Prozess beschäftigt. Er findet, dass die Defizite, die der Prozess aufgedeckt hat, noch lange nicht behoben seien.

Hajo Funke

Experte für Rechtsextremismus

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Der Politikwissenschaftler und Rechtsextremismus-Experte lehrte bis zu seiner Emeritierung 2010 am Institut für Politische Wissenschaften der Freien Universität Berlin. Er hat zudem mehrere Bücher zum Thema NSU geschrieben.

SRF News: Wie beurteilen Sie das Urteil gegen Beate Zschäpe?

Hajo Funke: Es ist berechtigt, Beate Zschäpe als Hauptangeklagte mit einer lebenslangen Haftstrafe auszustatten. Dies wegen der besonderen Schwere der Schuld als Teil der terroristischen Vereinigung NSU und als Mittäterin. So lautet das Urteil und so ist es durch starke Indizien auch berechtigt. Insofern hat der Rechtsstaat funktioniert. Das gilt auch für die Verurteilung der weiteren vier Angeklagten zu zwischen zweieinhalb und zehn Jahren.

Bundeskanzlerin Angela Merkel versprach 2012 den Hinterbliebenen der Opfer, alles zu tun, um die Morde aufzuklären und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Hat sie ihr Versprechen eingelöst?

Nein. Vielleicht ist es auch jenseits ihrer Richtlinienkompetenz, so etwas zu veranlassen. Aber es ist weder alles getan noch sind alle Täter gefasst und verurteilt worden.

Der Geheimdienst hat die nötigen Informationen nicht weitergegeben.

Wer ist denn nicht gefasst und verurteilt worden?

Es gibt eine breite Indizienkette, die dafür spricht, dass es an verschiedenen Orten Unterstützer, Beihelfer oder sogar Mittäter gegeben hat. Dies ist nicht systematisch ermittelt worden. Es ist vielfach sogar eine systematische Ermittlung behindert worden – insbesondere durch den Inlandsgeheimdienst.

Das heisst, der Geheimdienst hat die Polizei bei ihrer Arbeit behindert?

Der Geheimdienst hat die nötigen Informationen nicht weitergegeben. Er hat auch während der letzten Jahre noch Akten geschreddert, die womöglich auf informelle Beteiligung oder mehr hätten schliessen lassen können.

Was es bräuchte, wäre die Schaffung einer vernünftigen Fachaufsicht.

Ein besonders drastisches Beispiel ist der Umgang mit dem V-Mann des Landesamtes für Verfassungsschutz in Thüringen. Er ist in der vorbereitenden Phase über 30 Mal angezeigt worden. Aber er ist wegen des Quellenschutzes des Inlandsgeheimdienstes nie angeklagt und damit nie verurteilt worden.

Der Geheimdienst arbeitet ja stets in einem Graubereich, wenn er rechtsextreme Gruppen infiltriert. Ist Quellenschutz da nicht berechtigt?

In dieser Weise nicht. Das ist gegen den Rechtsstaat. Man muss, als Frühwarnsystem, als das sich der Inlandsgeheimdienst begreift, bei schweren Straftaten die Strafverfolgungsbehörden informieren. Dies geschieht oft nicht.

Da ist eine Art Ausnahmezustand zugelassen worden. Das dient nicht der Sicherheit.

Das ist die Grauzone, die Lücke, die man schliessen müsste. Da ist eine Art Ausnahmezustand, ein Staat im Staat zugelassen worden. Und das dient nicht der Sicherheit. Das ist das Entscheidende. Das hat sich in 13 Untersuchungsausschüssen gezeigt. Aber auch durch Interventionen der Nebenklagevertreter im Münchner Prozess ist das sehr klar geworden.

Was müsste geschehen, um den Geheimdienst in die Schranken zu weisen?

Was es bräuchte, wäre die Schaffung einer vernünftigen Fachaufsicht, vor allem durch das Innenministerium des Bundes und die Innenministerien der Länder. Und auch eine Kontrolle, die diesen Namen verdient, durch die zuständigen Institutionen des Parlaments, und durch eine wie auch immer geartete Öffentlichkeit, die die Ermittlungsarbeiten nicht gefährdet.

Die Urteile selbst sind ein Hinweis, dass der Rechtsstaat funktioniert.

Auf all diesen drei Ebenen haben wir es mit schweren Defiziten zu tun. Es ist keine Reform des Inlandsgeheimdienstes vorgenommen worden. Im Jahr 2015 ist allerdings eine Gesetzesänderung beschlossen worden, die das Recht des Inlandsgeheimdienstes auf den Einsatz von V-Leuten eher noch gestärkt hat. Im Grunde war dies also das Gegenteil einer Reform, die tatsächlich der Sicherheit dient und Kontrollen effizienter macht.

Nun liegen die Urteile vor. Sie sind noch nicht rechtskräftig. Zschäpe will ihres weiterziehen. Denken Sie dennoch, dass die Urteile zu einem Umdenken in der Politik bezüglich der Geheimdienste beitragen?

Die Urteile selbst sind ein Hinweis, dass der Rechtsstaat funktioniert. Und das ist wichtig. Aber zugleich ist die Debatte – auch die, die die Medien führen – womöglich die Chance dafür, die Defizite, die im Prozess sehr klar geworden sind, nun doch politisch abzubauen; durch entsprechende Institutionen, durch das Parlament, aber auch durch die Exekutive. Das würde unserer Sicherheit dienen.

Das Gespräch führte Beat Soltermann.

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