Um was geht es: Die Türkei plant offenbar eine grössere Militäroffensive in Syrien, konkret gegen die Kurdenmiliz YPG im Nordwesten des Landes. In den vergangenen Tagen – und verstärkt letzte Nacht – wurden mehrere kurdische Dörfer in der Grenzregion Afrin mit Granaten beschossen. An der Grenze stehen türkische Panzer und Soldaten.
Das sind die Beweggründe Erdogans zum Angriff: Die Miliz ist aus Sicht Ankaras ein Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Präsident Erdogan argumentiert, man wolle so «die Grenze zur Türkei vom Terror säubern». Erdogan hat immer wieder mit Aktionen gegen diese syrische Kurdenmiliz gedroht. Zwei Theorien:
- Verlautbarungen aus Washington haben die Situation in den letzten Tagen verschärft. Die USA haben sich nochmals deutlich hinter die Kurdenmiliz gestellt. Sie sehen sie als Teil einer längerfristigen amerikanischen Präsenz in Syrien. Schon jetzt funktioniert diese YPG Miliz als eine Art amerikanische Bodentruppe im Kampf gegen die Dschihadistenmiliz IS. Daraus solle eine dauerhaftere Sicherheitsrolle werden, heisst es in Washington. Das hat Erdogan schwer erzürnt.
- Dass sich Erdogan jetzt so direkt auf Afrin konzentriert, hängt auch mit der Offensive der Assadtruppen in der Provinz Idlib, der Nachbarregion von Afrin zusammen. Dort hat die Türkei durch den ganzen Krieg hindurch Einfluss auf syrische Rebellen gehabt. Angesichts des drohenden Verlusts von Einfluss in Idlib könnte sich die Türkei in Nordsyrien nun auf andere Weise positionieren wollen.
Das ist die YPG und ihre Ziele: Die YPG strebt nach Autonomie in den syrischen Kurdengebieten, die sich alle entlang der Grenze zur Türkei erstrecken. Politische Autonomie, nach einem Konzept, dass die verbotene Kurdenorganisation PKK in der Türkei entwickelt hat. Die YPG hat sich äusserst geschickt durch den Krieg hindurchmanövriert, anfangs irgendwo auf halber Distanz zwischen Regime und Rebellen, und sie hat weite Landstriche unter ihre Kontrolle gebracht. Dies vor allem dank der militärischen Unterstützung durch die USA, aber sie hat das Kunststück fertig gebracht, gleichzeitig Beziehungen zu Russland zu pflegen.
So nah steht die YPG der PKK: Die YPG steht der PKK sehr nahe. Die kurdische Partei, die hinter der YPG steht, ist der syrische Ableger dieser mächtigen PKK. Dies würden die wenigsten bestreiten, ausser vielleicht die US-Amerikaner, die einerseits die PKK auf der Terrorliste führen, andererseits mit der YPG in Syrien ein eingespieltes militärisches Bündnis pflegen.
So gross ist der Einfluss der YPG in Syrien: Sie verwaltet fast seit Kriegsbeginn die Kurdengebiete autonom. Und sie hat auch Dschihadisten und andere Herausforderungen abgewehrt. Das bringt ihr grossen Rückhalt. Dennoch gibt es Kritik, auch innerhalb der kurdischen Minderheit. Anhänger anderer Parteien und Clans werfen ihr vor, sie lasse keinen Widerspruch zu. Manche junge Kurden kritisieren auch die Zwangsrekrutierungen, die es in der kurdischen Miliz gebe. Der militärische Leistungsausweis und die politische Dominanz in den Kurdengebieten aber ist unbestritten.
Das sind die Tücken der Ausbreitung ihres Einflussgebietes: Mit US-Hilfe hat sich die YPG-Miliz in den vergangenen Monaten auch Richtung Süden und Osten in die ehemalige IS-Hochburg Rakka und darüber hinaus ausbreiten können. Das stärkt ihr politisches Gewicht einerseits, verkompliziert die Lage aber gleichzeitig. Denn es geht hier nicht mehr um Gebiete, die mehrheitlich kurdisch besiedelt sind, sondern um sunnitisch-arabisch geprägte Städte oder Stammesland in der Wüste: Rakka, das Umland von Deir et Zour mit seinen Ölfeldern an der irakischen Grenze. Da ist die kurdische Miliz weder zuhause noch gern gesehen. Und manche der arabischen Stämme, die sich gerade von IS losgesagt oder freigekämpft haben, misstrauen inzwischen beiden, den US-Amerikanern und den Kurden. Und dies in einem Mass, das ihre frühere Wut auf Assad und sein Regime womöglich noch übersteigt. Wie sich die Lage im Osten entwickelt, das ist eine der grossen offenen Fragen in diesem Konflikt.
So sieht die Situation im Nordwesten Syriens aus, wo die Russen das Sagen haben: Die Russen sollen sogar mitten in der Region Afrim ein kleines Kontingent eigener Truppen haben, dort wo Assad selber gar nicht hinkommt. Während sich die USA aus dem Nordwesten ganz raushalten. Umso wichtiger die Koordination der Türkei mit Russland. Hochrangige Gesandte waren deswegen in Moskau; ohne dass bekanntgeworden wäre, was genau dort vereinbart wurde. Nur das Regime Assad in Damaskus hat erklärt, dass es eine türkische Operation in Afrin als Angriff auf die syrische Souveränität bewerten und türkische Flugzeuge abschiessen werde.
Was wären die Folgen einer Eskalation in der Region? Nur zwei Punkte sind sicher:
- Die kurdische Frage, um die alle Kriegsakteure bis jetzt «rumgetanzt» sind, rückt immer stärker ins Zentrum der Auseinandersetzung.
- Die Türkei hat sich zwar schon jetzt in Syrien eingemischt, über Rebellen oder auch direkt: Es gibt eine türkisch kontrollierte Pufferzone, zwischen Afrin und den anderen Kurdengebieten. Damit will die Türkei verhindern, dass ein zusammenhängendes kurdisch kontrolliertes Band entsteht, entlang der gesamten türkischen Grenze. Aber die Türkei war selbst dort nur auf Gebiet aktiv, das arabisch geprägt ist. Wenn sie jetzt erstmals die Konfrontation sucht mit Kurden auf deren Gebiet, dann ist das auf jeden Fall eine ganz neue Dimension. Mit welchen Folgen hängt ganz davon ab, was Erdogan tatsächlich zu unternehmen und riskieren bereit ist.