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Kurdinnen im Irak Vom Schlachtfeld zurück an den Herd

Kurdische Frauen, die gegen den IS kämpften – diese Bilder gingen um die Welt. Doch hinter der Front sind die Frauen noch lange nicht frei.

Die irakisch-kurdische Hauptstadt Erbil ist vollgepflastert mit Wahlplakaten. Denn am 30. September wählen Kurdinnen und Kurden in der Autonomen Region Kurdistan im Irak eine neue Regierung. Auf fast jedem zweiten Plakat lächelt eine Frau. Laut Gesetz müssen im kurdischen Parlament 30 Prozent Frauen sitzen. Aber ausser auf den Plakaten ist weit und breit keine Frau zu sehen im Stadtzentrum. Und wenn, dann mit Kopftuch und in Begleitung eines Mannes.

Männer gehen an Wahlplakat vorbei
Legende: Frauen sind in der Autonomen Region Kurdistan auf Wahlplakaten gut vertreten, im Stadtbild weniger. SRF / Susanne Brunner

Männer prägen das Stadtbild – in Erbil und auch in der liberaleren Kultur- und Universitätsstadt Sulaimaniyya. Der Platz einer anständigen Frau ist zuhause: So denkt noch immer eine Mehrheit der irakisch-kurdischen Männer. Am Stadtrand von Sulaimaniyya liegt die Militärbasis der Peschmerga, der Armee der Regionalregierung. Hier bietet sich ein ganz anderes Bild.

Eine Gruppe von Peschmerga-Kämpferinnen wartet in ihrer Kaserne aufs Abtreten ins Wochenende. Die jungen Kurdinnen schauen sich auf einem Handy ein Video an. Ein Video, das sie bei ihrem Fronteinsatz gegen den IS zeigt. «Ich bin stolz, dass ich Peschmerga bin, ich bin bereit, mein Leben für mein Land zu opfern» lautet der Liedtext.

Die jungen Kämpferinnen haben dazu Bilder von ihrem Frauenregiment zusammengeschnitten: eine Kämpferin mit Sonnenbrille, die keck von einem Truppenfahrzeug herunterschaut, eine andere im Schützengraben, ein Gruppenbild vom Mittagessen an der Front.

Im Gegensatz zu den meisten Frauen auf den Strassen ihrer Dörfer und Städte trägt hier keine ein Kopftuch. Auch die Kommandantin nicht.

Frau im Uniform vor Fotos
Legende: Nahida Ahmad Rashid, Kommandantin des Peschmerga Frauen-Regiments in Sulaimaniyya, hat gegen den IS gekämpft. SRF / Susanne Brunner

Oberst Nahida Ahmad Rashid kommt aus einer Kämpferfamilie. Ihr Vater und ihre beiden Brüder waren Peschmerga-Kämpfer, ihr Onkel wurde zu Saddam Husseins Zeiten von der irakischen Regierung gehängt, und sie selbst wurde schon als Schulkind von der irakischen Regierung verfolgt. Sie flüchtete in die Berge zu den Peschmerga, und war lange Zeit die einzige Kämpferin unter Männern. 1991 half sie massgeblich mit, die Rückeroberung ihrer Heimatstadt Sulaimaniyya von der irakischen Armee zu organisieren.

Sie schuf sich damit Respekt bei den Männern, alles Mitglieder der Patriotischen Union Kurdistans (PUK). Die Männer halfen ihr, die Parteiführung von ihrer Idee zu überzeugen: nämlich, dass es bei den irakisch-kurdischen Peschmerga eine Fraueneinheit brauche. Am 11.11.1996 bewilligte der damalige PUK-Führer Jalal Talabani die Gründung eines Frauenregiments.

Peschmerga-Kämpferinnen
Legende: Nach dem Auftauchen der Miliz IS meldeten sich Hunderte Frauen als Peschmerga-Rekruten. Reuters

Gefangene vergewaltigt und verbrannt

Während ihre Kommandantin erzählt, suchen die jungen Kämpferinnen in einem alten Schrank nach einem Foto einer Kollegin, die im Kampf gegen den IS gefallen ist. Kein Krieg war schlimmer als der Krieg gegen den IS, erinnert sich Nahida Ahmad Rashid.

Sie habe viel Fronterfahrung, und die Kurden hätten auch viele Feinde, sagt die Kommandantin. Aber nichts hatte sie vorbereitet auf den Kampf gegen den IS. Der IS hatte im Juni 2014 Bashir erobert, ein turkmenisches Dorf südlich von Kirkuk. Dort war sie an der Front. Die Extremisten des IS befolgten keine Regeln des Krieges. Sie hätten Gefangene vergewaltigt und verbrannt, sagt sie. Das machte den Frauen Angst. Aber sie kämpften trotzdem weiter.

Die jungen Kämpferinnen haben das Foto ihrer Kollegin gefunden, die von einer Granate des IS getötet wurde. Sie hiess Rangeen, war 24 Jahre alt, Truppenausbildnerin und Mutter von zwei kleinen Mädchen. Die Kämpferinnen schauen das Foto an, summen mit dem Teil der Peschmerga-Hymne mit, die eine Frauenstimme singt.

Die Frauen, die an vorderster Front gegen den IS gekämpft haben, gehen ins Wochenende, nach Hause – wo sie fast alle traditionellen Frauenrollen übernehmen. Auch die Kommandantin.

Zuhause Mutter und Hausfrau

Die Peschmerga-Frauen leben nicht anders als andere Leute, sagt sie. Sie ist Mutter einer 14-jährigen Tochter, verheiratet mit einem ehemaligen Peschmerga-Kämpfer, der jetzt bei den Elektrizitätswerken arbeitet. Zuhause ist sie Mutter und Hausfrau. Sie kocht, putzt und wäscht. Aber ihr Mann helfe ihr bei allem, betont sie.

Während der Woche unabhängige Kämpferin, am Wochenende die Hausfrau, die daheim bleibt. Auf die Frage, ob sie nicht den Wunsch habe, für eine andere Frauenrolle in ihrer Gesellschaft zu kämpfen, sagt Oberst Nahida Ahmad Rashid, das tue sie als Peschmerga-Kämpferin.

Frau mit Mikrofon
Legende: Oberst Rashid sieht ihre militärische Aktivität als Beitrag zur Öffnung ihrer Gesellschaft gegenüber Frauenrechten. Nawzad Kareem

Sie übe ihr Recht als Frau aus, ihr Land zu verteidigen, und sie geniesse zugleich eine grosse Freiheit. Ihren Militärdienst sieht sie als Beitrag zur Öffnung ihrer Gesellschaft gegenüber Frauenrechten. Weil sie beweise, dass sie an der Front genauso gut wie ein Mann sei, und daheim einen Mann habe, der sie unterstütze.

Bei den Regierungswahlen am 30. September in der Autonomen Region Kurdistan im Irak wird sie jener Partei die Stimme geben, deren Männer mit ihr für die Gründung eines Peschmerga-Frauenregiments gekämpft haben: der Patriotischen Union Kurdistans.

Hintergrund: Frauenrechte in den kurdischen Gebieten

In der Autonomen Region Kurdistan im Irak dominieren Männer das öffentliche Leben. Der Platz der Frauen ist daheim. Nicht alle nehmen diese «göttliche Ordnung» hin. So haben Frauen das Stimmrecht, im regionalen Parlament gibt es eine Frauenquote, Frauen dürfen Staatsangestellte werden. Ehrenmorde sind verboten, die Beschneidung von Frauen ebenfalls: allerdings erst seit 2011. Frauen im irakischen Kurdistan haben Rechte. Mit ihrer Durchsetzung haben es die Frauen aber schwer.

Clans bestimmen Politik

Frauen- und Hilfsorganisationen berichten, dass je nach Gegend zwischen fünfzig bis sechzig Prozent der Frauen schon als Kind beschnitten werden. Ehrenmorde werden kaum bestraft. Die meisten Frauen können auch nicht bestimmen, wen sie heiraten, und sie sind oft häuslicher Gewalt ausgesetzt. Zwar gibt es regelmässig Proteste gegen Ehrenmorde, organisiert von verschiedenen Frauenorganisationen.

Die politische Macht dieser Organisationen ist jedoch beschränkt. Einerseits sitzen in den meisten Frauenorganisationen auch Männer. Anderseits wird die Politik der Autonomen Region Kurdistan im Irak von Clans bestimmt. Eine Frau, die Mitglied in einer der Clan-bestimmten politischen Parteien ist, kann nicht unabhängig von ihrer Partei politisieren.

Von Feinden umzingelt

Die Ursachen für die untergeordnete Rolle der Frau in der Region liegen einerseits in einer religiösen und patriarchalen Mentalität, die Tradition hat. Anderseits befindet sich die Region kriegerisch und wirtschaftlich im Ausnahmezustand, was zu einer Zunahme an Gewalt gegen Frauen führt, nicht nur in dieser Region.

In der Autonomen Region Kurdistan im Irak kämpfen die Kurden zudem mit den Folgen ihrer Abstimmung über die Unabhängigkeit vom Irak. Die Abstimmung führten sie gegen den Willen der Zentralregierung in Bagdad und ohne internationale Unterstützung durch. Die irakische Armee entriss den Kurden danach Gebiete, die sie vom IS befreit hatten. Die Kurden sind wieder umzingelt von Feinden. Da ist Geopolitik wichtiger als der Einsatz für Frauenrechte.

Susanne Brunner

SRF-Nahostkorrespondentin

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Susanne Brunner ist seit 2018 Nahostkorrespondentin für Radio SRF. Zuvor hatte sie zwölf Jahre lang die Sendung «Tagesgespräch» moderiert.

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