Das Coronavirus hat im Irak eine neue Front eröffnet. Das Land kämpft mit einer schweren politischen Krise und internen Spaltungen, die von Spannungen zwischen externen Mächten angeheizt werden. Die Terrormiliz IS nutze das Vakuum, erklärt Nahostkorrespondentin Susanne Brunner.
SRF News: Sie waren vor einigen Monaten im Irak, als Corona noch kein Thema war. Wie sieht es jetzt aus?
Susanne Brunner: Offiziell gibt es im Irak etwas mehr als 1500 Corona-Infektionen und rund 82 Todesfälle. Die Agentur Reuters schrieb kürzlich von acht- bis zehnmal höheren Zahlen und stützte sich auf Gesundheitspersonal. Die Regierung entzog Reuters die Arbeitsbewilligung für drei Monate.
Der Reuters-Bericht ist aber glaubhaft: Irak liess zehntausende iranische Pilger ins Land, als die Anti-Corona-Massnahmen schon galten. Iran war früh stark von Covid-19 betroffen: Es wäre ein Wunder, wenn die Pilger aus dem Corona-Hotspot Iran das Virus nicht im grossen Stil verbreitet hätten.
Was ist von den Protesten gegen die Korruption in der Regierung geblieben?
Mit den Ausgangssperren gibt es nur noch selten grosse Demonstrationen. Nach dem Rücktritt des Premiers hat das Land seit Herbst eine Übergangsregierung. Zwei designierte Premiers haben aufgegeben. Aktuell versucht ein dritter Kandidat, ein Kabinett zu bilden.
Welches sind die grössten Probleme?
Es sind vier Hauptprobleme: Im Irak gibt es etwa 100 bewaffnete Gruppierungen, wobei die meisten auf den Iran hören. Über diese Milizen hat die irakische Regierung kaum eine Kontrolle. Zweitens tragen der Iran und die USA ihre Kämpfe im Irak aus. Das heizt die Spannungen zusätzlich an. Es gibt Gruppierungen, welche die US-Truppen aus dem Land werfen wollen, obwohl diese auch den IS bekämpfen.
Ein dritter Punkt ist die Korruption. Jede religiöse politische Gruppierung schaut für sich. Der Irak wäre dank Öl und Landwirtschaft an sich ein reiches Land. Aber es gibt keinen wirtschaftlichen Plan zum Wohl des ganzen Landes. Das erzeugt Unmut. Und schliesslich ist Irak kriegsversehrt. Ganze Städte wie Mossul liegen noch immer in Trümmern.
Der IS ist nicht komplett besiegt. Auch weil sich die Regierungen in Bagdad und im autonomen Kurdengebiet häufig nicht einig sind, wer gegen den IS kämpfen soll – die irakischen Streitkräfte, die kurdischen Peschmerga oder die US-Truppen im Land. So häufen sich die Überfälle und Anschläge.
Steckt hinter den Überfällen und Anschlägen der IS?
Die irakischen und die kurdischen Regierungen sprechen eindeutig vom IS. Alleine am Samstag gab es in der Provinz Diyala vier IS-Anschläge, bei denen auch irakische Soldaten umkamen. Die irakische Luftwaffe bombardierte in einer anderen Provinz IS-Stellungen. Auch die Peschmerga werden in letzter Zeit häufig vom IS angegriffen.
Lässt sich abschätzen, wie stark der IS im Irak zurzeit ist?
Die meisten Expertenschätzungen gehen von 10'000 bis 25'000 IS-Kämpfern im Irak und Syrien aus. Verifizierbar ist das kaum. Ausserdem rekrutiert die Terrormiliz umso mehr Sympathisanten, je schlechter die Wirtschaftslage und die Zukunftsaussichten sind.
Was braucht es, damit extremistische Gruppen das Machtvakuum nicht ausnützen?
Ganz sicher eine handlungsfähige Regierung. Dann müssten die irakische und die kurdische Regierung ihre Konflikte ausräumen. Schliesslich sollte die Welt vor lauter Coronavirus nicht vergessen, dass Gruppierungen wie der IS kein regionales Problem sind. Sie halten sich nicht an Ausgangssperren, sondern bedrohen die ganze Welt.
Die Welt sollte vor lauter Coronavirus nicht vergessen, dass Gruppierungen wie der IS kein regionales Problem sind.
Das Gespräch führte Ivana Pribakovic.