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Russland: Nachfahren der Verbannten kämpfen für Wiedergutmachung
Aus 10 vor 10 vom 28.12.2021.
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Leben in der Verbannung Die Kinder des Gulag

Den Nachkommen von Stalins Opfern würde eine Wiedergutmachung zustehen. Doch Russland setzt seine Gesetze nicht um.

Der Stacheldraht wurde wenige Jahre vor der Geburt von Ewgenja Schaschewa vom Zaun um die Siedlung herum entfernt. Auch Wachtürme standen nicht mehr vor der Baracke, wo ihre Eltern während ihren Jahren in Lagerhaft gewohnt hatten.

Schneebedeckte Holzhäusschen.
Legende: In einer Baracke wie diesen ist Ewgenja aufgewachsen. Bis heute leben hier Menschen unter prekären Bedingungen. Viele Baracken sind jedoch unbewohnt. SRF/Luzia Tschirky

Die 72-Jährige lebt heute noch immer in der Region Komi, knapp 50 Kilometer Luftlinie nördlich vom Arbeitslager entfernt, wo ihre Eltern einst inhaftiert waren.

Gulag

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Gulag-Lager von 1954 in Birobidschan, 8368 km östlich von Moskau.
Legende: Gulag-Lager von 1954 in Birobidschan, 8368 km östlich von Moskau. Keystone

Das Kürzel Gulag bezeichnet das Netz von Straf- und Arbeitslagern in der Sowjetunion. Im weiteren Sinn steht es für die Gesamtheit des sowjetischen Zwangsarbeitersystems, das neben Lagern und Zwangsarbeitskolonien auch Sonderlager, Spezialgefängnisse und Zwangsarbeitspflichten ohne Haft umfasste. Die Anzahl Lager varierte duch die Zeit, im März 1953 gehörten zum Beispiel 175 Lager zum Gulag.

Denn die Region verlassen, in die sie verbannt worden waren, durften ihre Eltern nicht. Ihr Vater versuchte vergeblich, von den sowjetischen Behörden die Bewilligung zu erhalten, um nach Moskau – seinem Wohnort – zurückzukehren.

Und so wuchs Ewgenja in einem Ort auf, der zum Gulag, dem Arbeitslagersystem der Sowjetunion, gehört hatte.

Was haben wir denn verbrochen?
Autor: Ewgenja Schaschewa Tochter von Verbannten

Den Kampf des Vaters führt Ewgenja seit zwanzig Jahren durch alle Instanzen fort: «Es ist in erster Linie meine Pflicht im Gedenken an meinen Vater. Hinzu kommt meine eigene Sturheit. Was haben wir denn verbrochen?»

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Ewgenja Schaschewa: «Ich weiss, dass mein Vater wollte, dass wir als Familie in Moskau leben»
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Geständnisse unter Folter

Der Vater von Ewgenja, Boris Nikolaewitsch Tscheboksarow, hatte nichts verbrochen, als er 1937 verhaftet und zu acht Jahren Verbannung verurteilt wurde. Er war einer von Millionen von Menschen, die in der Sowjetunion unter Diktator Stalin unschuldig für Jahre in Haft kamen.

Zeitgleich mit dem Vater wurde auch Ewgenjas Grossvater festgenommen. «Wir wussten nicht, dass mein Grossvater erschossen wurde. Erst zu Beginn der 2000er-Jahre erfuhr ich dies im Archiv des Innenministeriums in Moskau.»

Mann und Frau mit Kind auf dem Schoss. Es ist ein altes Schwarzweissbild.
Legende: Ewgenja mit Ihren Eltern, die sich im Lager kennengelernt hatten. Beide wurden unschuldig zu langen Haftstrafen verurteilt. zvg

Beim Lesen der archivierten Befragungsprotokolle der sowjetischen Geheimpolizei verstand Ewgenja, dass man ihren Vater und Grossvater gefoltert hatte. Den Vater hatte man unter Folter zu Aussagen gezwungen, die man anschliessend als angeblichen Beweis herbeizog, um den Grossvater zum Tode zu verurteilen und in einem Vorort von Moskau zu erschiessen. 

Gesetz ohne Umsetzung

Bis zum heutigen Tag wurde keiner der Täter von einem Gericht wegen der Verbrechen zu Zeiten des sowjetischen Terrors verurteilt. Unter Boris Jelzin wurde ein Gesetz verabschiedet, das den Kindern von Opfern das Recht verbürgt, in den Ort zurückzukehren, in dem deren Eltern zum Zeitpunkt ihrer Festnahme lebten. Der Staat verpflichtete sich zudem, den Opfern der Repression eine Wohnung bereitzustellen.

Grauer Wohnblock, Schnee.
Legende: Heute lebt Ewgenja in einer Plattenbausiedlung aus den 1960er-Jahren. Für einen Besuch beim Arzt muss sie über eineinhalb Stunden mit dem Auto fahren. SRF/Luzia Tschirky

Bis heute wird dieses Gesetz jedoch nicht umgesetzt. Die Behörden schieben einander vielmehr gegenseitig die Verantwortung in die Schuhe. Während Jahrzehnten wurde die Repression in der Sowjetunion totgeschwiegen. «Als ich ein Kind war, wurde über dieses Thema nicht gesprochen», erzählt Ewgenja beim Gespräch in ihrer Wohnung.

Die Strasse der Knochen

Der Weg ins Lager ist auf den schlechten Strassen für Ewgenja zu weit und mit zu vielen schlimmen Erinnerungen verbunden. «Als Kind bin ich unterwegs auf einem Transportfahrzeug im Winter einmal fast erfroren.»

Schneebedeckte Strasse auf der ein Lastwagen und ein Auto fahren.
Legende: Die Strasse ins ehemalige Lager ist von Löchern übersät. Schnee und Eis erleichtern die Fahrt im Winter. Im Frühling und Herbst ist der Weg fast unpassierbar. SRF / Luzia Tschirky

Die Strasse ins Lager wurde von Häftlingen gebaut, die meisten von ihnen waren deutschstämmige Frauen, die bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges von Stalin ins Lager geschickt wurden.

In der Gegend wird die Strasse bis heute «Strasse der Knochen» genannt. In den Wäldern links und rechts von der Strasse liegen Häftlinge begraben. Öffentlich ist bis heute nicht bekannt, wer beim Bau der Strasse ums Leben gekommen ist und wo die Menschen begraben sind. 

Mein Vater ermahnte mich: ‹Auf den kleinen Hügeln wird nicht gehüpft. Das sind Gräber.›
Autor: Ewgenja Schaschewa

Vor der Abzweigung ins ehemalige Lager steht ein Holzkreuz. Aufgestellt erst vor wenigen Jahren für die Opfer politischer Repression.

Als Ewgenja ein Kind war, stand hier noch kein Kreuz. Die Erwachsenen wussten dennoch alle Bescheid: «Wir gingen mit dem Vater Pilze im Wald sammeln. Mein Vater ermahnte mich: Auf den kleinen Hügeln wird nicht gehüpft. Ich habe gefragt: warum? Mein Vater sagte mir: ‹Das sind Gräber.› Ich habe damals nicht gefragt, weshalb hier Leute begraben waren, wo es doch einen ganz anderen Friedhof gab. Die Ermahnung des Vaters habe ich nie vergessen.» 

Ein Wettlauf gegen die Zeit

Mit zwei weiteren Betroffenen gelangte Ewgenja vor zwei Jahren bis vor das höchste Gericht des Landes. Obwohl das Verfassungsgericht zugunsten der klagenden Töchter ehemaliger Lagerhäftlinge entschied, ist zwei Jahre später die Sache noch immer nicht weiter gekommen.

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Ewgenja: «Gibt es keine Betroffene mehr, gibt es keine Probleme»
Aus 10 vor 10 vom 28.12.2021.
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Für Ewgenja und alle anderen Betroffenen ist es ein Wettlauf gegen die Zeit: Sie selbst versteht das so, dass entschieden wurde, dass sich die Frage mit der Zeit von selbst lösen werde. Dies, weil sie Menschen in hohem Alter betreffe und diese wegsterben würden. «Niemand wird mehr Fragen stellen. Gibt es keine Betroffene mehr, gibt es keine Probleme.» Zwei Jahre sind vergangen, und es leben gerade noch einmal 1500 Menschen.

Memorial: Hilfsorganisation für Nachkommen kämpft mit Repression

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Erst gegen Ende der Sowjetunion und mit der Bürgerbewegung Memorial wurde dem Schweigen über die Repression ein Ende gesetzt. Die Organisation Memorial sammelte während über 30 Jahren Informationen zu den Opfern des sowjetischen Terrors, um deren Angehörigen eine Möglichkeit zu geben, nach den repressierten Verwandten zu suchen.

Bis heute führt Memorial die einzig frei zugängliche Datenbank zu den Opfern der politischen Repression in der Sowjetunion. Von über 11 Millionen Opfern trug Memorial die Namen von mehr als 3 Millionen zusammen.

Auch Ewgenja und andere Nachfahren von Repressierten haben durch Anwälte von Memorial Unterstützung bei ihrem Kampf durch die Instanzen bekommen.

Doch Memorial wurde Ende Dezember in zwei Gerichtsverfahren zwangsaufgelöst. Damit ist auch die Zukunft der juristischen Unterstützung für Ewgenja unklar.

10v10, 28.12.2021, 21.50 Uhr

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