Ein Grossteil der Russinnen und Russen hat Schwierigkeiten, sich das Nötigste zu kaufen. Das ist das Resultat einer neuen Untersuchung der russischen Statistikbehörde. 60’000 Haushalte wurden dafür befragt. SRF-Russland-Korrespondent David Nauer erläutert die Hintergründe.
SRF News: Was zeigt der Bericht der russischen Statistikbehörde?
David Nauer: Die Behörde hat festgestellt, dass sich zehn Prozent der Russinnen und Russen keine Medikamente leisten können. 25 Prozent haben Mühe, Gäste zu verköstigen, wenn sie zum Beispiel Geburtstag haben. Ein Drittel kann sich kein weiteres Paar Schuhe kaufen. Viele Leute haben nur zwei Paar Schuhe, eins für den Sommer und eins für den Winter. Für mehr reicht es nicht.
Armut ist in Russland vor allem ein Problem auf dem Land. Wie nehmen Sie das wahr?
Es gibt grosse Unterschiede. In Moskau kann man in ein schickes Restaurant gehen und dort für ein Essen so viel ausgeben, wie ein Lehrer in einem Dorf in einem Monat verdient. Andererseits erinnere ich mich an den Besuch bei einem Paar in einem Dorf 800 Kilometer nordöstlich von Moskau. In diesem Haus gab es nichts, das jünger als 40 Jahre war. Teller, Möbel, Geschirr und Kleider stammten aus Sowjetzeiten. Das Paar hatte einen Garten und Hühner und Schweine. Zum Essen reichte es, aber um sich etwas mit Geld zu kaufen, reichte es nicht.
Der Wirtschaft in Russland geht es schon länger schlecht. Die Regierung hat Besserung versprochen. Glaubt man der neuen Untersuchung, ist sie noch nicht in Sicht.
Die Wirtschaft ist nach der Annexion der Krim 2014 in eine tiefe Krise gerutscht. Inzwischen wächst die Wirtschaft wieder, aber nur langsam. Laut Prognose soll sie im laufenden Jahr um 1.4 Prozent wachsen.
Liberale Ökonomen sagen, es bräuchte genau das Gegenteil von dem, was Putin macht.
Das ist viel zu wenig. Die Erhebung sagt auch, dass die russische Wirtschaft im Moment gleich gross ist wie vor zehn Jahren. Die Bevölkerung spürt diese Stagnation am eigenen Leib. Auch der Bericht, was sich die Leute leisten können, zeigt das.
Was sollte die Regierung gegen die Armut in der Bevölkerung tun?
Da gibt es unterschiedliche Ansichten. Putin hat angekündigt, grosse staatliche Investitionen in Infrastruktur oder auch bei den Sozialausgaben tätigen zu wollen. Liberale Ökonomen aber sagen, es bräuchte gerade das Gegenteil von dem, was Putin macht.
Der Staat müsste eigentlich einen Neustart des ganzen politischen und wirtschaftlichen Systems in Russland machen. Dazu gehört eine Versöhnung mit dem Westen und eine Lösung des Ukrainekonflikts. Allerdings ist nicht zu erwarten, dass Putin das System, das er selber geschaffen hat, einfach auf den Kopf stellt. Man muss eher davon ausgehen, dass es so weitergeht wie bisher.
Die Opposition wurde vom Staat zerschlagen und der Repressionsapparat – Geheimdienst, Polizei und Sicherheitskräfte – funktioniert.
Seit fünf Jahren sinkt der Reallohn in Russland. Wie lange macht die Bevölkerung das noch mit?
Die Russen sind ein geduldiges Volk. Ich kann mich erinnern, 2014 waren sehr viele Russen euphorisch wegen der Annexion der Krim. Russland war endlich wieder wer. Aber inzwischen sind fünf Jahre ins Land gezogen und es herrscht ein Gefühl von Stagnation. Gemäss Umfragen machen immer mehr Leute Putin für die schlechte Wirtschaftslage verantwortlich. Dennoch ist kein Aufstand zu erwarten. Es gibt in Russland keine organisierte Opposition. Die wurde vom Staat zerschlagen und der Repressionsapparat – Geheimdienst, Polizei und Sicherheitskräfte – funktioniert. Falls sich Leute, die unzufrieden sind, zusammenschliessen würden, wäre der Staat sehr schnell und würde die Bewegung unterdrücken.
Das Gespräch führte Raphael Günther.