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Machtkampf in Tunesien Verwelkt der Arabische Frühling in diesen Tagen endgültig?

Vor zehn Jahren hat der Arabische Frühling in Tunesien seinen Anfang genommen. Seither wurde das Land demokratisch regiert. Die Ereignisse der letzten Tage lassen jedoch an den Errungenschaften der Revolution zweifeln. Der Staatspräsident, Kais Saied, hat den Regierungschef entlassen und die Arbeit des Parlaments kurzerhand für 30 Tage ausgesetzt. Vorangegangen waren Proteste gegen die Regierung. Saied versichert, sich im Rahmen der Verfassung zu bewegen – Kritiker sprechen von einem Staatsstreich. Maghreb-Kenner Daniel Voll über eine Demokratie auf dem Prüfstand.

Daniel Voll

Frankreich- und Maghreb-Korrespondent

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Daniel Voll ist seit 2018 Frankreich-Korrespondent von Radio SRF mit Sitz in Paris. Der Maghreb gehört ebenfalls zu seinem Berichtsgebiet. Zuvor war er unter anderem als EU-Korrespondent in Brüssel und als Auslandredaktor für SRF tätig.

SRF News: Der Machtkampf zwischen Präsident Kais Saied und Regierungschef Hichem Mechichi dauert schon seit Monaten an. Worum geht es inhaltlich?

Daniel Voll: Neben der Macht geht es auch um unterschiedliche Vorstellungen darüber, wer im Staat welche Rolle spielt. Präsident Saied hat schon vor seiner Wahl deutlich gemacht, dass er kein Freund der aktuellen Verfassung ist – er möchte als Präsident eine aktivere Rolle spielen. Heute hat er vor allem Spielraum, wenn es um die Ernennung von Ministerpräsidenten und der Regierung geht. Aber dann sitzt er in der zweiten Reihe und das behagt ihm nicht. Saied misstraut dem politischen Establishment und wirft ihm Unfähigkeit und Korruption vor. Das kommt bei seiner Basis gut an, vor allem bei vielen jungen Wählerinnen und Wählern.

Der Präsident wird heute von vielen auf der Strasse bejubelt, weil er die Regierung gestoppt hat. Diese wird verantwortlich dafür gemacht, dass die Wirtschaft schlecht läuft und die Corona-Zahlen so hoch sind. Sind die Vorwürfe berechtigt?

Sie sind bestimmt nicht völlig falsch. Die amtierende Regierung hat die Gefahren der Pandemie unterschätzt und ist mitverantwortlich dafür, dass Tunesien derzeit härter getroffen wird als Nachbarländer wie Algerien. Für die generelle wirtschaftliche Schwäche Tunesiens ist die Regierung aber nicht alleine verantwortlich. Sie trägt schwer am Erbe aller Vorgängerregierungen. Denn keine Regierung seit dem Sturz von Diktator Ben Ali hat Tunesiens Wirtschaft nach dem Einbruch der Weltwirtschaftskrise wieder auf Touren gebracht.

Demonstranten in Tunis, Januar 2011
Legende: 2011 gingen Tunesierinnen und Tunesier auf die Strasse und forderten mehr Demokratie. Sie erreichten, dass der langjährige autokratische Machthaber Ben Ali abdanken und flüchten musste. Keystone

Die tunesische Demokratie war von Anfang an sehr fragil. Tunesien ist das letzte Land, das nach dem Arabischen Frühling noch demokratisch regiert wird. Muss man zusammenfassend sagen: Der Arabische Frühling hat nichts gebracht?

Generell würde ich sagen, der Arabische Frühling hat schon vor Jahren dem Winter Platz gemacht. Die aktuellen Vorgänge könnten aber eine Wende der tunesischen Revolution werden. Es ist allerdings auch nicht die erste Krise in den letzten zehn Jahren. Bereits 2014 erlitt die Revolution eine erste schwere Krise. Dies nach dem Konflikt zwischen der moderat-islamischen Ennahda und den eher säkularen Parteien um die Verfassung. Dabei ging es im Wesentlichen um die Frage, wie stark das islamische Recht darin einfliessen solle. Säkulare Kräfte setzten sich damals durch, die Islamisten lenkten ein und Tunesien gab sich eine fortschrittliche Verfassung.

Putsch von oben oder Volkes Wille?

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Kais Saied
Legende: Kais Saied Keystone/Archiv

Ungeklärt ist, welche Absichten Präsident Saied hat. Kritiker wie der Präsident des tunesischen Parlaments sprechen von einem Staatsstreich. Präsident Saied seinerseits stellt sich auf den Standpunkt, er habe lediglich Artikel 80 der Verfassung angewendet. «Er hat ihn aber sehr selektiv gelesen und eigenwillig interpretiert», sagt Maghreb-Kenner Voll. Denn: Gemäss dem betreffenden Artikel müsste sich der Staatspräsident mit dem Parlamentspräsidenten und dem Regierungschef absprechen. «Aber der Staatspräsident hat den Regierungschef abgesetzt und das Parlament für 30 Tage suspendiert.»

Präsident Saied dürfte einer anderen Darstellung folgen: Er ist dem Ruf der Strasse gefolgt, um Ruhe und Ordnung zu bewahren – und nicht seinen eigenen Machtgelüsten. «Er hat immer schon behauptet, er mache nur, was das Volk will. Darauf wetten würde ich aber nicht», schätzt Voll.

In den nächsten Tagen und Wochen werde sich zeigen, was Saied plane. Dass heute vor dem Parlament die Armee aufmarschiert sei, sei in Tunesien zumindest ungewöhnlich. Denn in innenpolitischen Streitfällen habe sie sich bisher stets neutral verhalten – auch schon bei der Revolution gegen Diktator Ben Ali. «Jetzt hat Saied einen General zum Verteidigungsminister gemacht. Auch dies ist eine Premiere.»

Heute geht es auch wesentlich um die Stabilität des Landes, die durch die wirtschaftliche und politische Entwicklung stark gefährdet ist. Denn Demokratie schafft nicht nur Stabilität, sie braucht sie auch. Und wenn aus dieser Krise eine autoritäre Regierung entsteht, dann ist sie eine Gefahr für die Demokratie in Tunesien. Falls nicht, wird diese Krise vielleicht sogar zu einer Chance.

Das Gespräch führte Roger Brändlin.

Echo der Zeit, 26.07.2021, 18 Uhr ; 

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