Ein Sonntagabend im Juni, auf der Promenade der «Playa de Palma» auf Mallorca. Das Restaurant an der Ecke wirbt auf einer Schiefertafel für sein Tagesangebot: «Wienerschnitzel mit Pommes» steht da auf Deutsch, dazu gibt es Weissbier vom Fass.
Eine Gruppe junger Frauen und Männer trinkt kein Bier, dafür Sangría aus bunten Röhrchen. Hier lässt es sich auch mit Kopfschmerzen von der Nacht zuvor gemütlich sitzen. Die weissen Korbsessel laden regelrecht dazu ein, mit jedem Glas noch ein bisschen tiefer zu sinken.
Sehnsuchtsort Schinkenstrasse
Gleich um die Ecke ein Nachtklub, der einfach «Club» heisst. Oder eher: «Clu-». Der letzte Buchstabe, das B, ist abgefallen. An seiner Stelle klebt ein Sticker mit der Aufschrift: «suffgeschwader.de». Der Name dürfte Programm sein. Denn hier beginnt die sagenumwobene Schinkenstrasse, der Sehnsuchtsort vieler Partytouristinnen und -touristen, vor allem aus Deutschland.
Fee und Franzi, zwei junge Frauen aus Bayern, waren gestern hier unterwegs. Eineinhalb Stunden seien sie vor dem «Bierkönig» angestanden, erzählen sie.
Heute sieht es vor dem «Bierkönig» ziemlich anders aus. Der Türsteher steht zwar bereit, aber keine Schlange ist in Sicht. Und ja, es ist Sonntag, aber vor Corona war das egal. Hier wurde jeder Tag zur Nacht.
Direkt gegenüber befindet sich das «Bamboleo», noch so eine Schinkenstrassen-Institution. Auf der Leinwand läuft ein Tennismatch, aus den Lautsprechern dröhnt ein Schlager.
Der Liedtext verspricht «pure Euphorie», aber die herrscht hier definitiv nicht, auch wenn der DJ sich alle Mühe gibt, Partystimmung zu verbreiten. Wie auch, wenn man maximal zu viert an den Holztischen sitzen und nicht tanzen darf?
Massenpartys am Strand
Doch manche Touristinnen und Touristen wissen sich zu helfen. Eine Gruppe Jugendlicher aus den Niederlanden hat bis tief in die Nacht direkt am Strand gefeiert. «Diese Ferien sind sogar noch besser als erwartet!», schwärmt einer von ihnen. Sie alle hätten ihr Schuldiplom frisch in der Tasche – «darauf muss man schliesslich anstossen!». Da sei es ihnen ganz recht, wenn die Polizei es nicht so genau nehme mit den Vorschriften.
Ganz anders sieht das Mohnish Vaswani, ein junger Mann, der nur wenige Meter vom Strand entfernt in einer Mietwagenfirma arbeitet. Auf seinem Handy zeigt er ein Video, das ein Freund zwei Tage zuvor aufgenommen hat: Eine Menge junger, dicht gedrängter Menschen am Strand von Palma. «Sechs-, siebentausend sind das», empört sich Mohnish, «und nicht eine Maske!».
Natürlich sei er froh, dass das Geschäft langsam wieder laufe, Mallorca lebe ja schliesslich vom Tourismus. «Aber ich verlange von den Touristinnen und Touristen ein Minimum an Respekt. Sie sollten sich so verhalten, wie sie es auch in ihrem eigenen Land tun.»
Er habe den Eindruck, dass für die Einheimischen andere, strengere Regeln gelten würden als für die Touristinnen und Touristen. Die Polizei und die Behörden würden lieber wegschauen, als die ausländischen Gäste zu vergraulen.
Hotelübernachtungen um 90 Prozent eingebrochen
Die Balearen haben den wirtschaftlichen Aufschwung bitter nötig. Maria José Aguiló ist Vizepräsidentin des Hotelierdachverbands von Mallorca (FEHM), dem rund 850 Hotels angehören. Die Zahlen, die sie nennt, zeichnen ein Bild dieser Krise – oder der «Katastrophe», wie Aguiló sich ausdrückt.
Die Übernachtungen in den Hotels seien 2020 um 90 Prozent eingebrochen; das Bruttoinlandsprodukt der Inseln um geschätzt 25 Prozent. Doch sie ist zuversichtlich: Schon jetzt sei ein deutlicher Anstieg der Buchungen zu verzeichnen, besonders aus dem deutschsprachigen Raum.
«Wir haben diese Krise gut gemeistert, was uns zu einem sicheren, glaubwürdigen Reiseziel macht», sagt Maria José Aguiló.
Denn neben dem legendären Nachtleben, dem kristallklaren Wasser und den feinen Tapas sind die tiefen Ansteckungszahlen für die Attraktivität der Balearischen Inseln als Reiseziel essenziell. Aktuell liegt die 14 Tage-Inzidenz der Neuinfektionen in der Region bei unter 40 Fällen pro 100'000 Einwohnerinnen und Einwohnern.
Jede und jeder Vierte von Armut betroffen
Doch auch wenn man auf Mallorca langsam das Licht am Ende des Tunnels sieht: Die Krise hat tiefe Spuren hinterlassen. Maria Antònia Carbonero forscht an der Universität der Balearischen Inseln (UIB) und leitet ein Institut, das die gesellschaftlichen Entwicklungen auf der Insel beobachtet.
Gemäss ihren Berechnungen hat die Krise dazu geführt, dass jede und jeder Vierte auf den Balearen von Armut betroffen ist. Vor der Pandemie lag diese Quote deutlich tiefer. Die Balearen galten im Vergleich zum restlichen Spanien immer als reiche Region.
Jene, die die Krise am härtesten getroffen hat, haben nicht nur ihre Arbeitsstelle verloren, sondern auch ihr Zuhause. Guillermo Montero leitet im Sozialamt von Mallorca die Abteilung, die sich um die Betreuung von Obdachlosen kümmert.
Er sagt: Den Anstieg der Obdachlosigkeit auf Mallorca präzis zu messen sei schwierig, doch manche Expertinnen und Experten würden von einer Verdreifachung sprechen.
Auch die lokale Sektion des Roten Kreuzes betreut aktuell deutlich mehr obdachlose Menschen als noch vor der Pandemie. «Viele der Betroffenen sind Saisonarbeiterinnen und -arbeiter, die im Frühling 2020 nach Mallorca gekommen sind, mit der Aussicht auf eine befristete Stelle im Gastgewerbe», sagt Marga Plaza, die für die Thematik zuständig ist. «Dann ging alles zu – und sie sassen fest, ohne Einkommen.»
Ungleichheit wird sichtbar
Plaza spricht von einem strukturellen Problem: Diese Saisonniers, ohne fixe Arbeitsverträge, ohne soziale Absicherung, ohne finanzielles Polster gebe es seit Jahrzehnten.
Früher hätten sie allerdings innert kürzester Zeit Arbeit gefunden in Hotels, Restaurants oder Nachtclubs und damit auch eine Unterkunft bezahlen können. Jetzt würden sie und ihr Team diese Menschen auf Parkbänken und in Hauseingängen antreffen, sagt Plaza: «Die Coronakrise hat die Ungleichheit, die auf Mallorca seit jeher existiert, offengelegt.»