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Massiv mehr Bootsflüchtlinge «Migranten wollen Tunesien so schnell wie möglich verlassen»

In den ersten Monaten dieses Jahres haben zehnmal mehr Menschen versucht, mit dem Boot aus Tunesien nach Italien zu gelangen als in derselben Vorjahresperiode. Eine der Folgen: Immer wieder sinken Boote und Menschen ertrinken, wie gerade erst am Wochenende.

Derweil hetzt Tunesiens Präsident Kais Saied gegen die Migranten und Flüchtlinge aus der Subsahara. Seine Rede habe dazu geführt, dass die Stimmung gegenüber den Migranten gekippt sei, sagt die Journalistin Sarah Mersch.

Sarah Mersch

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Sarah Mersch ist freie Journalistin und lebt seit 2010 in Tunesien. Sie berichtet für diverse deutschsprachige Medien aus dem nordafrikanischen Land.

SRF News: Wie ist der starke Anstieg von Menschen, die mit dem Boot aus Tunesien nach Italien wollen, zu erklären?

Sarah Mersch: Tunesien steckt seit mehreren Jahren in einer Krise – sowohl wirtschaftlich als auch politisch. Inzwischen kommt es zu Versorgungsengpässen, die Inflation ist sehr hoch, Lebensmittel werden immer teurer. Viele Tunesierinnen und Tunesier haben also selber Probleme, sich zu versorgen und versuchen, nach Europa zu gelangen.

Viele Menschen aus Ländern südlich der Sahara wollen Tunesien verlassen – wegen zunehmender rassistischer Übergriffe.

Zusätzlich wollen jetzt viel mehr Menschen aus Ländern südlich der Sahara Tunesien verlassen – wegen einer Zunahme rassistischer Übergriffe und der umstrittenen Rede des Präsidenten.

Führt also die Stimmung in Tunesien dazu, dass viele Migrantinnen und Migranten das Land verlassen wollen?

Viele Menschen sehen in Tunesien keine Zukunftsperspektive mehr, sie wissen nicht, wie sie über die Runden kommen sollen. Sie hoffen darauf, dass die Chancen dafür in Europa besser sind.

Migranten aus Afrika.
Legende: Viele Migrantinnen und Flüchtlinge aus der Subsahara fühlen sich in Tunesien zunehmend unwohl, immer öfter kommt es zu rassistischen Übergriffen. Verschlimmert hat sich die Situation seit der umstrittenen Rede des Präsidenten. Reuters/Jihed Abidellaoui

Was haben die Äusserungen von Präsident Saied konkret ausgelöst?

Er hat die Verschwörungsfantasien der europäischen Rechten aufgegriffen und von einem «organisierten Bevölkerungsaustausch» gesprochen. Kritikerinnen und Kritiker werfen ihm vor, damit von innenpolitischen Problemen ablenken zu wollen. Immerhin ist Saied seit anderthalb Jahren quasi Alleinherrscher in Tunesien – und die Situation für die Bevölkerung hat sich seither nicht verbessert.

Präsident Saied sucht Sündenböcke, denen er die Schuld für die schlechte Situation im Land zuschieben kann.

Vor seiner umstrittenen Rede gab es bereits eine Verhaftungswelle gegen Oppositionelle. Man hat den Eindruck, Saied sucht Sündenböcke, denen er die Schuld für die schlechte Situation im Land zuschieben kann. Jetzt hat er dazu Migrantinnen und Migranten angegriffen.

Versucht Saied damit, die Menschen gezielt aus Tunesien zu vertreiben?

Nach massiver Kritik zahlreicher afrikanischer Staaten sind einige Regierungsmitglieder zurückgerudert, sprachen von einem Missverständnis und betonten, es gehe darum, die irreguläre Migration einzudämmen und betreffe nicht sich regulär in Tunesien aufhaltende Migranten.

Saied hat den zuweilen vorhandenen Alltagsrassismus in Tunesien legitimiert – seither kommt es auch zu Übergriffen.

Doch es ist klar, dass der Präsident mit seiner Rede den zuweilen vorhandenen Alltagsrassismus in Tunesien legitimiert hat. Es kam daraufhin auch zu Übergriffen. Deshalb versuchen viele jetzt, Tunesien so schnell wie möglich zu verlassen.

Hat also auch die Stimmung im Land gegenüber Migrantinnen und Migranten gedreht?

Die Stimmung hat sich sicher verschärft. Früher war nichts von Übergriffen bekannt. Doch jetzt gibt es immer mehr Berichte, dass Menschen angegriffen und verletzt oder von normalen Bürgern angehalten und zum Vorweisen ihrer Aufenthaltspapiere aufgefordert werden. Viele Migrantinnen und Migranten haben ihre Wohnung oder ihre Arbeitsstelle verloren. Man kann also durchaus sagen, dass die Stimmung gekippt ist.

Das Gespräch führte Raphael Günther.

SRF 4 News, 28.03.2023, 07:40 Uhr ; 

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