Während sich Russland – trotz WM-Aus für den Gastgeber – für vier Wochen im weltkollektiven Fussball-Freudentaumel sonnt, läuft der Repressionsapparat wie geschmiert weiter. Gerade am Tag der Schweizer Achtelfinalprobe stand in Tschetschenien ein bekannter Menschenrechtsaktivist vor Gericht. In Nordrussland ist ein prominenter Historiker erneut im Netz einer wohl fingierten Anklage, wie Russland-Korrespondent David Nauer berichtet.
SRF News: Sie sprechen im Fall des Menschenrechtlers Ojub Titijew von einer konstruierten Anklage. Warum?
In Russland gibt es immer wieder den Verdacht, dass die Polizei missliebigen Personen Drogen unterschiebt. Das scheint auch im Fall von Ojub Titijew in Tschetschenien passiert zu sein. Der engagierter und mutige Menschenrechtler ist Chef der Menschenrechtsorganisation «Memorial» in Tschetschenien. Er und seine Kollegen wurden schon mehrfach bedroht und angegriffen. Seine Vorgängerin wurde sogar ermordet. Nun wollen ihn die Behörden offensichtlich mit einer fingierten Anklage aus dem Weg räumen.
Der andere Fall betrifft den Historiker Jurij Dmitriev, Experte für die Geschichte des Gulag in Nordrussland? Was passiert mit ihm?
Dmitriev wurde letzte Woche unter dem Vorwurf festgenommen, er habe seine minderjährige Pflegetochter sexuell missbraucht. Auch hier sieht es nach einem konstruierten Vorwurf aus. In einem früheren Prozess gegen Dmitriev ging es um kinderpornographische Bilder, die er gemacht haben sollte. Er wurde damals freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft blamierte sich bis auf die Knochen, weil jegliche Beweise fehlten. Doch es sieht ganz so aus, dass mächtige Kreise im Sicherheitsapparat Dmitriev im Gefängnis sehen wollen, egal wofür.
Was gefällt denn dem russischen Staat an Dmitrievs Arbeit nicht?
Er erforscht unermüdlich den Terror der Stalin-Zeit. Er hat zahlreiche Hinrichtungsstätten entdeckt und ausgegraben. Er nennt die Opfer beim Namen, aber eben auch die Täter jener Zeit. Das gefällt den russischen Sicherheitsbehörden und dem Geheimdienst nicht. Sie wollen nicht an die Verbrechen ihrer Vorgänger erinnert werden. Präsident Putin könnte das Verfahren wohl stoppen, auch wenn der die Verfolgung von Dmitriev vermutlich nicht selbst angeordnet hat.
Warum wartet die Justiz mit solchen Prozessen nicht das Ende der WM ab?
Das ist schwer zu sagen. Es ist aber tatsächlich so, dass die Polizei in den WM-Stätten mit all den Ausländern auffallend freundlich und hilfsbereit ist. Viele Russen erkennen ihre eigene Polizei nicht wieder. Allerdings sind Tschetschenien und Nordrussland weit weg von der WM und den Augen der ausländischen Fussballfans. Kritische Russen machen sich aber auch hier in Moskau keine Illusionen. Niemand glaubt daran, dass diese WM ein langfristiges Tauwetter bringt, sondern allenfalls ein rasch vorüberziehendes und oberflächliches warmes Lüftchen ist.
Das Gespräch führte Simon Leu.