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Messerattacke von Würzburg Psychisch gestört oder islamistischer Terrorist?

Man wähnt sich in einem tragischen Déjà-vu: Wann immer in den letzten Jahren junge Männer – und einzelne Frauen – scheinbar wahllos Menschen in der Öffentlichkeit attackierten, war das Urteil vieler Beobachterinnen und Beobachter rasch gefällt: Schien der Täter Muslim zu sein, musste es sich logischerweise um einen Terrorakt handeln, so die eine Seite. Die andere Seite meinte zu wissen: Eine psychische Erkrankung müsse alleiniger Grund für die Tat sein, umso vehementer, wenn etwa von einem Klinikaufenthalt die Rede ist.

Digitale Schnellrichter

So waren auch am Freitagabend wieder blitzschnell die öffentlichen Urteile gefällt, als erste Meldungen und Videos des Messerangriffs in Würzburg in sozialen Medien die Runde machten. Dass es einigen der digitalen Schnellrichter einzig darum ging, ihre vorgefasste Meinung zu zementieren oder gar politische Stimmungsmache in die eine oder andere Richtung zu betreiben, scheint offensichtlich, und war auch in diesem Fall nicht anders, wie auch SRF-Deutschland-Korrespondentin Bettina Ramseier analysierte.

Solche Instant-Schlussfolgerungen entbehren oft jeder Grundlage, sind doch in den ersten Stunden nach einer solchen Tat erst Bruchstücke an Informationen vorhanden, vermengt mit Gerüchten und oft Falschmeldungen.

Hinzu kommt: Der vermeintliche Gegensatz Terrorist – Geisteskranker greift schlicht zu kurz. Die Sache ist oft komplexer und bedarf polizeilicher Ermittlungen. Der deutsche Journalist und Terrorismusspezialist Yassin Musharbash hat es in einem Tweet so auf den Punkt gebracht:

Die Frage, wie viel Anteil psychische Störung und wie viel Anteil Radikalisierung in einer Tat stecken, werden wohl auch die besten forensischen Psychiaterinnen und Psychiater nicht auf die Kommastelle genau eruieren können. Unabhängig vom Fall Würzburg hat sich in den letzten Jahren aber deutlich gezeigt: Immer wieder spielen beide Faktoren eine wichtige Rolle bei Anschlägen, sowohl eine psychische Störung unterschiedlichen Grades als auch eine Radikalisierung. War es die Krankheit oder war es die Ideologie? Diese Frage lässt sich oft nicht mit entweder oder beantworten.

Kombination von Faktoren

Nicht selten liegt eine Kombination vor, so war es auch vergangenes Jahr bei den Messerattacken in der Schweiz, in Morges (VD) und Lugano. Der mutmassliche Täter und die mutmassliche Täterin waren beiden offenbar psychisch labil. Das festzuhalten, heisst keineswegs ihre Radikalisierung kleinzureden. Doch der Faktor gehört zu ihrem Profil dazu, wie auch die deutlichen Hinweise auf eine islamistische Radikalisierung.

Im Fall Morges sagte der Täter aus, er habe den Propheten rächen wollen. Das in zentral, denn es gibt Aufschluss über die Motivation aus seiner Sicht – und das Motiv ist entscheidend dafür, dass der Angriff von Morges von den Behörden als mutmasslich islamistischer Anschlag eingestuft wird, trotz psychischer Probleme des Täters.

Es sind solche Profile, die die terroristische Bedrohungslage diffuser machen und die Arbeit der Sicherheitsbehörden noch schwieriger gestalten. Denn, wie in Würzburg und auch in den Fällen Lugano wie Morges handelte es sich nicht um Unbekannte. Sie alle fielen – in unterschiedlichen Massen – den Behörden zuvor auf, waren aber sehr schwierig auf einer Gefährdungsskala zu verorten.

Daniel Glaus

Fachredaktor Extremismus

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Daniel Glaus ist seit 2015 Inlandredaktor beim Schweizer Fernsehen, zu seinen Dossiers zählen Extremismus und Terrorismus. Zuvor arbeitete der Investigativjournalist beim Recherchedesk von «SonntagsZeitung» und «Le Matin Dimanche».

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Tagesschau, 26.06.2021, 12:45 Uhr

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