Musterschüler haben einen schweren Stand. Genüsslich rechnet man ihnen vor, wo sie nicht brillieren. Als Hochkommissar für Migration hört Pedro Calado immer wieder, Portugal habe versprochen, 3000 Flüchtlinge aus den Lagern in Griechenland und Italien zu übernehmen und habe dann doch nur 1700 genommen.
Die Zahlen stimmten, sagt Calado, aber der Vorwurf zwischen den Zeilen sei falsch: «Wir haben uns bereit erklärt, bis zu zehntausend Flüchtlinge aufzunehmen. Bisher sind uns nur 1700 zugeteilt worden. Hätte man uns mehr geschickt, wir hätten sie alle genommen.» Tatsächlich ist das Programm angepasst und die Quoten sind teils nach unten korrigiert worden. Calado beschönigt nicht.
«One-Stop-Shop» hat sich bewährt
Wer sich von Portugals Politik der offenen Türen ein Bild machen will bekommt im Hochkommissariat einiges zu sehen: «One-Stop-Shop» heisst das Prinzip, das eine einzige Adresse für alle bürokratischen Anliegen umschreibt. In diesem Fall ist es ein Ort, wo Migrantinnen und Migranten alle für sie notwendigen Behörden vorfinden.
Portugal hat gegenüber Griechenland, Spanien oder Italien einen grossen Vorteil: Der Migrationsdruck ist gering, Migrationspolitik entsteht hier nicht unter Notstandsverhältnissen.
Der «One-Stop-Shop» funktioniert seit 2004 und ist als effizienter Weg für Migrantinnen und Migranten anerkannt. Ausländische Kollegen oder Politiker besuchen die Einrichtung, weil sie nach ähnlichen Modellen suchen, wie Calado sagt. Es gebe sogar bereits ein Handbuch dafür.
Viele wanderten in der letzten Krise aus
Die Wirtschaftskrise der letzten zehn Jahre war nach den Worten von Calado eher ein Ansporn für die offene Migrationspolitik und sicher kein Hindernis. Eine derartige Krise habe Portugal seit den 1970er-Jahren nicht mehr erlebt: Mehr Menschen verliessen Portugal, als einwanderten. Das Land verlor gut qualifizierte Menschen.
Doch Calado betont: «Jene, die kamen und hier arbeiteten, haben mehr Firmen gegründet als die Portugiesen, und sie haben eine halbe Milliarde Euro in unser Sozialsystem einbezahlt. Daran erinnern wir hier immer wieder, damit die Leute erkennen, dass Immigration keine Last ist für ein Land, sondern ein Nutzen.»
Jene, die kamen und hier arbeiteten, haben mehr Firmen gegründet als die Portugiesen.
Das ist mittel- und langfristig gedacht. Aber im Emigrationsland Portugal sei harter Widerstand gegen die Immigration kaum vorstellbar. Jedem Einwanderer hier stünden zehn Portugiesen gegenüberstehen, die in irgendein anderes Land ausgewandert seien. Vor diesem Hintergrund beurteile man die Immigration anders. «Wir wissen aus Erfahrung, dass in den Augen der andern wir die andern sind.»
Aber auf dieser Gewissheit dürfe man nicht ausruhen. Es braucht intensive Aufklärungsarbeit. «Wir sind nicht mehr die weisse Mittelklassegesellschaft der 1970er-Jahre, sondern eine vielfarbige, gemischte Gesellschaft», erklärt Calado. Diese Veränderungen müssten den Menschen deutlich gemacht werden.
Wir wissen aus Erfahrung, dass in den Augen der andern wir die andern sind.
Der interkulturelle Dialog beginnt auf der Schulbank
Sichtbar ist das in den Schulen. Portugal hat knapp vier Prozent ausländische Bevölkerung. Aber in Lissabon zum Beispiel hatten letztes Jahr 20 Prozent der Neugeborenen ausländische Eltern. Darum beginne der interkulturelle Dialog in den Schulen, wo die kommende Gesellschaft Portugals sitze.
Das ist der Horizont, den Calado im Blick hat, und den die portugiesische Politik ansteuert. Um etwa die Sozialsysteme finanzieren zu können, braucht Portugal eine grössere aktive Bevölkerung. Das heisst: Immigration.
75'000 Immigranten jährlich, damit aktive Bevölkerung wächst
Eine Studie rechnet laut Calado vor, dass Portugal jährlich 50'000 Einwanderer braucht, um den Bevölkerungsstand auf dem heutigen Niveau zu halten. Wenn die aktive Bevölkerung wachsen soll, brauche es 75'000 Immigranten. Und zwar jedes Jahr auf lange Dauer.
Die Studie rechnet allerdings auch vor, das Portugal seine Immigration steuern muss. Dass man also auf Fachleute der Informationstechnologie setzen muss, dass es auch Ingenieurinnen und Naturwissenschaftler braucht. Und Studentinnen, Studenten.
Wir brauchen qualifiziertes Personal, aber unser Fokus ist nicht eng definiert.
Calado weist den Verdacht von sich, dass Portugal seine Migrationspolitik nach rein wirtschaftlichen Kriterien ausrichtet: Portugal brauche alle. In der Landwirtschaft, an den Universitäten und im Gesundheitssektor: «Wir brauchen qualifiziertes Personal, aber unser Fokus ist nicht eng definiert.» Portugals Route ist also klar. Aber der Weg führt durch Gebiete, für die es noch keine Karten gibt.