Champ de Mars mit Sicht auf den Eiffelturm. Zwischen den Touristen steht ein grossgewachsener Mann. Ihm wird in Frankreich momentan viel Aufmerksamkeit zuteil. «Afrika steht vor der Tür», lautet die unbequeme These des 61-jährigen Professors für Afrikastudien. «Heute, selbst in diesem schicken Teil von Paris, ist es mittlerweile völlig normal – und es ist auch normal – dass ein Teil der Menschen um uns schwarz ist», so der Amerikaner. Dies werde weiter zunehmen.
«In dreissig Jahren wird es auf der Welt fünfmal mehr Afrikaner geben als heute.» Das wären dann rund 2,5 Milliarden Menschen. Dies führe automatisch zu einem Migrationsdruck. Sprich: «Es werden immer mehr Afrikaner nach Europa kommen und sich hier integrieren.»
Der Kontinent der betagten Europäer werde der Jugend Afrikas gegenüberstehen, die in ihrer Heimat keine Zukunft hätte, weil Afrika dieser Masse von Menschen eine solche gar nicht mehr bieten könne, glaubt Smith.
Entwicklung hinkt dem Bevölkerungswachstum hinterher
Smith arbeitete lange Zeit als Afrika-Korrespondent für verschiedene französische Zeitungen. Damals sei ihm ein Fehler unterlaufen, sagt er. Er habe Korruption und schlechte Regierungsführung als Ursache für den Entwicklungsrückstand Afrikas völlig überschätzt.
In Wirklichkeit sei es in erster Linie die schiere Zahl der Bewohner, die den Fortschritt verhindere. «In den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts gab es 150 Millionen Afrikaner. Heute sind es fast 1,5 Milliarden und sie werden sich in den nächsten 30 Jahren wahrscheinlich verdoppeln.»
Die Entwicklung hinke dieser Bevölkerungswelle immer hinterher. Es sei praktisch unmöglich mit den vorhandenen Mitteln überhaupt ausreichend Investitionen zu tätigen, damit die kommende Generation genügend Ausbildungs- und Arbeitsplätze finde, sagt Smith.
Der Fortschritt werde durch das Bevölkerungswachstum verschlungen. Selbst der besten Regierung sei es unmöglich, in ausreichendem Mass Schulen, Strassen und Spitäler und Arbeitsplätze zu schaffen. Der Exodus nach Europa könne dabei für die afrikanischen Regierungen kurzfristig eine Erleichterung sein, aber langfristig sei die Auswanderung eine Katastrophe.
Geldüberweisungen nicht nachhaltig
Bereits heute lebten Millionen von Afrikanern von den Geldüberweisungen ihrer Verwandten, die es nach Europa geschafft haben. Das möge kurzfristig ein Segen sein, sei aber nicht nachhaltig. «Man kann Menschen nicht ersetzen, nur weil man Geld bekommt.»
Afrika braucht seine jungen Menschen und nicht deren Geld.
Das sei so, wie wenn er sich als Vater darauf beschränkte, Geld nach Hause zu schicken. «Man braucht mich und meine Präsenz. Afrika braucht seine jungen Menschen und nicht deren Geld.» Es sei eine falsche Rechnung, wenn man glaube, dass sich Afrika entwickeln könne, wenn Menschen auswanderten. «Es wäre besser, wenn all die Mittel und die Energie, welche in die Migration investiert werden, in die Entwicklung des Kontinents fliessen würden.»
Menschen, welche die Heimat verlassen, fehlten in Familien, in der Wirtschaft und der Gesellschaft. Oft seien es die Fähigsten und Klügsten, welche den Weg ins Exil suchten. Also Menschen, die in einem Land auch politisch etwas verändern könnten. Der Exodus raube den Zurückgebliebenen damit nicht nur ihre Hoffnungsträger, sondern auch den Glauben, dass sich in Afrika etwas ändern könnte.
Er spreche wohlverstanden von Migranten und nicht von Flüchtlingen, sagt Smith. Wer an Leib und Leben gefährdet sei, müsse in Europa immer willkommen sein. «Auch der eritreische Bürger, der dem militärischen Zwangsdienst und der Diktatur entflieht, oder der Südsudanese, der dem Bürgerkrieg entkommen will.» Für solche Menschen solle das Asylrecht heilig sein, so Smith.
Doch: «Die meisten Menschen aus Afrika, die nach Europa auswandern, kommen aus Ländern, die uns Hoffnung machen: Senegal, Elfenbeinküste, Ghana, Nigeria.» Das seien Länder in denen man leben, hoffen und etwas aufbauen könne.
So provozierend die Aussagen von Smith klingen mögen: Das Buch ist keine Polemik, sondern basiert auf präzisen demographischen Fakten und Statistiken. Er habe versucht, wertfrei darzustellen, was ein wachsender Exodus für Afrika bedeuten könnte, aber ebenso für Europa. Zwischen dem Diskurs «Wir schaffen das» und der Realität gebe es einen Unterschied.
Wir werden uns verändern müssen, aber auch die Migranten müssen sich ändern.
Menschen in grosser Zahl aus anderen Kulturen aufzunehmen, bedeute auch andere Normen und Wertbegriffen aufzunehmen. Diese Herausforderung sei nicht zu unterschätzen. «Wir werden uns verändern müssen, aber auch die Migranten müssen sich ändern.» Das sei ein Wagnis und erfordere viel Arbeit. «Man muss sich bewusst sein, dass man dies nicht unendlich multiplizieren kann.»
Argwohn bei linken Weggefährten
Smith war als Journalist im Milieu der französischen Linken zu Hause. Sein jüngstes Werk wird mittlerweile sogar von Präsident Emmanuel Macron zitiert und wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Auch das konservative Nachrichtenmagazin «Le Point» lobt das Buch als «Lehrstunde der Intelligenz».
Seine linken Weggefährten dagegen beobachten mit Argwohn, wie das Buch auch von Populisten und Nationalisten beklatscht wird. Applaus von der falschen Seite störe ihn nicht, sagt Smith. Wenn Populisten klüger würden, könne man vielleicht sogar vernünftig zusammen diskutieren – zum Beispiel über das immer grössere Gefälle zwischen Arm und Reich.
Wenn wir Lager für Migranten bauen wollen, dann soll das in Europa geschehen. Damit wir unsere Verantwortung dafür wahrnehmen können.
Stephen Smith, der heute an der Duke University in North Carolina unterrichtet, erachtet die nationalistische Abschottungspolitik der Rechtspopulisten als nutzlos. Ebenso fragwürdig wie hilflos sei der Bau von Lagern in Nordafrika: «Wenn wir Lager für Migranten bauen wollen, dann soll das in Europa geschehen, damit wir unsere Verantwortung dafür wahrnehmen können, dass dies in Umständen passiert, die wir akzeptieren können.»
Afrikanische Staaten in der Verantwortung
Die Idee sei ja auch nicht neu: «Die Italiener haben früher mit Libyen verhandelt, mit Kriegsfürsten, damit weniger Migranten nach Europa kommen. Das funktioniert leider sehr gut.» Auch habe die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel das Vorhaben unterstützt, der Türkei sechs Milliarden Franken zu bezahlen, damit das Land Europa Hunderttausende von Flüchtlingen vom Hals halte. «Diese Entwicklung finde ich sehr bedenklich.»
Afrika wird heute dafür bestraft, dass zu viele Menschen da sind.
Aber auch die afrikanischen Staaten müssten ihre Verantwortung dringend wahrnehmen. Die afrikanischen Eliten müssten endlich zur Solidarität mit ihren leidenden Bevölkerungen aufgerufen werden und afrikanische Regierungen müssten ihre demographische Verantwortung wahrnehmen.
«Eine Kultur kann sich verändern»
Der häufig erwähnte Einwand, Grossfamilien seien halt Teil der afrikanischen Kultur, lässt Smith dabei nicht gelten. «Afrika wird heute dafür bestraft, dass zu viele Menschen da sind.» All diese jungen Menschen, die keine Arbeit finden, jedenfalls keine, die sie wirklich ernährt: «Das ist weder gut für die Wirtschaft noch die Gesellschaft. »
Kultur sei nicht statisch, sagt Smith. «Eine Kultur kann sich verändern. Das wissen die Afrikaner.» Die meisten seien mehrsprachig und anpassungsfähig. Afrikas Regierungen sollten sich deshalb nicht hinter einem statischen Kulturbegriff verstecken, so Smith. «Sie sollten schauen, wo ihre Interessen liegen: bei der Familienplanung.»