Es ist sechs Uhr morgens. Drei Polizisten gehen der Strandpromenade von Gravelines entlang. In der Ferne ist eine Gruppe von mehreren Dutzend Menschen mit orangen Schwimmwesten erkennbar. Sie steigen in ein Schlauchboot und fahren hinaus ins Meer.
Die Menschen auf diesem Boot sind Teil der 573 Migrantinnen und Migranten, die im Verlauf des Tages die britische Küste erreichen werden. Am selben Tag haben mehrere Hundert weitere Personen ebenfalls versucht, über den Ärmelkanal nach Grossbritannien zu gelangen. Sie wurden indes von der Polizei daran gehindert.
Vor einem Haus in der Nähe des Strandes von Gravelines liegt ein riesiges, schwarzes Gummiboot. Daneben eine leere Tränengas-Ampulle. Die Angestellten der Gemeinde zerlegen das Gummiboot mit Japanmessern, der Motor ist bereits im Auto.
«Die Polizei hat das Schlauchboot in der Nacht aufgeschlitzt und die Migranten verscheucht. Wir entsorgen es nun», sagt Jérôme Hamy. Seit einiger Zeit gehöre dies zu seinen alltäglichen Arbeiten als Gemeindearbeiter. «Nur ein bisschen weiter die Strasse runter ist noch eines, das entsorgen wir später.»
Die Gemeinde Gravelines ist seit ein paar Jahren ein viel genutzter Abfahrtsort für Migranten. Die Situation werde zunehmend schwierig. Der Gemeindepräsident hat deshalb Geld von Grossbritannien akzeptiert für zusätzliche Videokameras und ein neues Überwachungszentrum; seit Anfang Jahr ist es in Betrieb.
«Grossbritannien rügt uns, wir seien zu wenig konsequent und liessen zu viele Menschen durch», so Bertrand Ringot, der Gemeindepräsident. Aber solange das Land so attraktiv sei für die Migranten, sei es unmöglich, sie von ihrem Vorhaben abzuhalten. «Wenn sie es heute nicht geschafft haben, probieren sie es in ein paar Tagen wieder.»
An einer Bushaltestelle in Gravelines treffen wir auf eine Gruppe von mehreren Dutzend Migranten. Sie sind gerade in der Region angekommen und wollen mit dem Bus weiter nach Calais. Unter ihnen ist ein 18-jähriger Somalier. Seit drei Jahren sei er unterwegs und wolle unbedingt nach Grossbritannien, weil er dort Freunde habe und wegen der Sprache. «Ich weiss, dass es gefährlich ist, mit Schlauchbooten über den Ärmelkanal zu fahren, aber ich bin bereit, dieses Risiko einzugehen.»
Auf seiner Flucht habe er Schreckliches erlebt. Besonders in Libyen, dort würden die Migranten gefoltert und schlechter als Tiere behandelt. «Gott sei Dank, habe ich das überlebt und bin nun hier!»
Als der Bus kommt, positionieren sich sieben Polizisten daneben und schauen, dass es kein Gerangel gibt und auch die lokale Bevölkerung einsteigen kann. Rund 200 Migrantinnen und Migranten haben gemäss der Behörden an diesem Morgen an der Bushaltestelle gewartet.
Herzzerbrechende Kinderschreie
Die Bevölkerung von Gravelines erlebt das Migrationsphänomen hautnah mit. Valérie Agneray wohnt in der Nähe des Strandes und macht jeden Morgen bereits um fünf Uhr ihren Frühsport am Strand. Es sei schrecklich, die Abfahrten der Migranten und die Auseinandersetzungen mit der Polizei mitzubekommen: «Es macht mich so traurig, ich höre oft Kinder schreien und könnte heulen.»
Es müsse etwas getan werden, um diese unmenschliche Situation zu stoppen, so die aktive Rentnerin.