- Über Jahre sollen Hunderte Männer in mehreren englischen Städten Teenager von sich abhängig gemacht und dann ausgebeutet haben.
- Seit dieser Woche stehen in Grossbritannien wieder drei der mutmasslichen Täter vor Gericht.
- Die Fälle sind politisch brisant, da es sich bei den Angeklagten meist um Männer pakistanischer Herkunft handelt. Die Justiz schien lange wegzuschauen.
Missbrauch und Vergewaltigung von mindestens 1400 Teenagern über Jahre hinweg durch mehr als 100 Täter – das haben die Ermittlungen im Fall Rotherham ergeben, der weltweit Schlagzeilen machte. Mehrere Täter wurden bereits verurteilt, diese Woche stehen wieder drei Angeklagte vor Gericht.
Schläge, Drogen, Drohungen
Ein Missbrauchsopfer aus Rotherham ist Sammy Woodhouse. Die Frau ist heute 32 Jahre alt. Sie hat ihre Geschichte aufgeschrieben und als Buch publiziert: «Als ich ihn kennenlernte, war ich 14 Jahre alt. Er war 24, sah gut aus, hatte Designerkleider an, war lustig. Er sagte die richtigen Sachen, machte mir Komplimente. Ich habe mich einfach in ihn verliebt.»
Der 24-jährige Brite pakistanischer Herkunft ist geschickt: Er beschenkt sie, lädt sie zu Partys ein. Aus der Verliebtheit wird eine Beziehung. Sie hat regelmässig Sex mit ihm, auch gegen ihren Willen. Sie denkt, dies sei normal. Sie wird ihm hörig und haut ab von zuhause, auf ihre Eltern hört sie nicht.
Der 24-Jährige nimmt sie mit auf Diebestouren und gibt ihr Drogen. Aber er schlägt sie auch. Als sie ihn verlassen will, droht er, sie einen Abhang hinunterzuwerfen. Mit 15 wird sie Mutter.
Behörden taten nichts
Ihr Fall hat eine riesige Untersuchung angestossen. Genauso entsetzlich wie die Taten selber ist das Wegschauen der Behörden. Die Polizei hätte mehrmals eingreifen können, beispielsweise als die beiden beim Sex erwischt wurden. «Die Polizei machte eine Razzia im Haus. Aber nicht er, sondern ich wurde festgenommen. Er hatte mir vorher eine Waffe in meine Tasche gesteckt, deshalb haben sie mich mitgenommen.»
Aus deren Sicht waren wir einfach kleine Schlampen, die ständig zu diesen Typen zurückkehrten. Aber wir waren Kinder, die missbraucht wurden.
Sammy Woodhouse war nicht das einzige betroffene Mädchen in der Stadt. Für die Polizei waren diese Mädchen jedoch längst Jugendliche, die immer wieder Schwierigkeiten machten. «Aus deren Sicht waren wir einfach kleine Schlampen, die ständig zu diesen Typen zurückkehrten. Aber das waren wir nicht. Wir waren Kinder, die missbraucht wurden.»
Viele Städte betroffen
Der Täter von Sammy Woodhouse war nicht der einzige. Schätzungen gehen alleine in Rotherham von über 100 Tätern aus, mehrheitlich pakistanischer Herkunft. Über Jahre verführten sie die Mädchen, missbrauchten sie, schlugen sie, trieben sie in die Prostitution.
Vielleicht kannten die Behörden nicht das ganze Ausmass, doch die Problematik war bekannt. Offensichtlich fehlte es an Mut zur systematischen Aufklärung. Dabei dürfte auch die Befürchtung, als rassistisch zu erscheinen, eine Rolle gespielt haben.
Doch vor einigen Jahren werden erste Fälle von den Medien aufgedeckt. Nach und nach wird in Grossbritannien deutlich: Rotherham war längst nicht die einzige Stadt. Telford, Newcastle, Oxford, Rochdale – mindestens zehn Städte sind betroffen. Das gesamte Ausmass ist bisher nicht bekannt, viele Fälle liegen Jahre oder Jahrzehnte zurück.
Rechte Gruppierungen profitieren
Durch die ersten Verurteilungen in vielen Städten wurde deutlich, dass das Muster in über 80 Prozent der Fälle dasselbe ist: Gruppen von Männern pakistanischer Herkunft, die Teenager-Mädchen ausbeuten. Wegen der mangelnden öffentlichen Diskussion haben rechte Gruppierungen angefangen, das Vakuum zu füllen. Sie demonstrieren bei Gerichtsverhandlungen und rufen Hasstiraden. Die Videos stellen sie ins Internet.
Die Behörden in Rotherham wollten vor der Kamera keine Stellung nehmen. Sie beteuern aber, dass Opfer heute Gehör fänden. Einzelne handeln, aber eine umfassende Aufarbeitung hat im Land kaum stattgefunden. Die grosse Herausforderung ist es, weder in rassistische Denkmuster zu verfallen, noch Wahrheiten unter den Teppich zu kehren.
All den Schmerz, den ich durchlebt habe, ergibt so einen Sinn.
Sammy Woodhouse hat diese Aufklärung zu ihrem Job gemacht. Sie führt Workshops durch, geht mit ihrem Buch in Schulen – auch in muslimische – und klärt auf. Diese Aufgabe gebe ihr Kraft: «All den Schmerz, den ich durchlebt habe, ergibt so einen Sinn. Meine Erlebnisse können anderen Opfern helfen und neuen Missbrauch verhindern.» Sammy Woodhouse hat vieles verarbeitet und für sich Lösungen gefunden. Vielen Opfern und dem Land selbst steht dies noch bevor.