Gisèle Pelicot wurde von ihrem Ehemann betäubt, vergewaltigt und Unbekannten zur Vergewaltigung angepriesen. 51 Männer stehen vor Gericht. Psychiater Serge Hefez ordnet ein.
SRF: Der grosse Vergewaltigungsfall schockiert die Welt und wirft die Frage auf: In was für einer Gesellschaft leben wir?
Serge Hefez: Ich würde nicht sagen, dass der Missbrauchsfall von Mazan zeigt, wie die Gesellschaft funktioniert, aber er ist wie ein Vergrösserungsglas, das die Beziehungen zwischen Männern und Frauen widerspiegelt und auch all die Fragen, die sich rund um diese Beziehungen stellen: die Fragen der männlichen Dominanz, die Fragen der Macht der Männer über die Frauen, die Fragen der Vergewaltigung, selbstverständlich die Frage der Zustimmung. Der Fall wirft diese Fragen auf.
Die 50 Angeklagten neben dem Haupttäter werden in Frankreich oftmals als Durchschnittsbürger bezeichnet. Sind sie das?
Nein, die Männer, die in diese Geschichte verwickelt sind, sind nicht einfach gewöhnliche Männer. Es sind Männer, die einen schwierigen Lebenslauf haben, einige haben in ihrer Kindheit zum Beispiel (sexuelle) Gewalt erlebt. Es sind auch Männer, die spezielle sexuelle Praktiken, wie Gruppensex, Swinger-Partys oder Ähnliches ausüben. Mit Dominique Pelicot sind sie via eine spezielle Website in Kontakt getreten, in einem Forum mit dem Titel «ohne ihr Wissen»; der Durchschnittsbürger vertreibt sich die Zeit eher nicht auf einer solchen Seite.
Seit #MeToo verändert sich der Blick zum Glück, es gibt nun auch viele Männer, die ihre Weltsicht infrage stellen.
Ausserdem scheint Pornografie im Leben der Angeklagten eine grosse Rolle gespielt zu haben. Und Pornofilme zeigen leider auch heute noch vielfach unterworfene, herabgewürdigte Frauen und sehr dominante Männer, die über alles entscheiden. Auch Dornröschen-Fantasien von Sex mit einer schlafenden Frau zirkulieren in diesen Kreisen. Ich sage dies nicht, um die Täter zu entschuldigen, aber es ist möglich, dass es diesen Männern gar nicht so aussergewöhnlich vorkam, dass ein Mann seine schlafende Frau unbekannten Männern anbietet.
Ist es ein Zufall, dass dieser Fall in Frankreich passiert ist? Sexuelle Belästigung scheint hier nicht immer ernst genommen zu werden. Emmanuel Macron hat zum Beispiel vor kurzem Gérard Depardieu als «Stolz Frankreichs» bezeichnet, obwohl der Schauspieler aktuell mehrere Verfahren wegen sexueller Belästigung am Hals hat.
Es gibt tatsächlich eine französische Kultur der Verführung. Der Mann dominiert, flirtet, legt die Hände dorthin, wo er kann. Und die Frau ist sehr zufrieden damit, als Objekt des Verlangens gesehen zu werden. Damit einher geht die Vorstellung, dass die Frau auch «Ja» meint, wenn sie «Nein» sagt. Sich heute von all den Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen zu befreien, die das mit sich bringt, ist dementsprechend schwierig. Seit #MeToo verändert sich der Blick zum Glück, es gibt nun auch viele Männer, die ihre Weltsicht infrage stellen und sehen, dass diese Verführungskultur auch ein Verhältnis der Dominanz ist.
Es gibt aber noch viel zu tun, bis die französische Gesellschaft nicht mehr von Männern dominiert ist?
Ja, seit Jahren kämpfen Frauen und Männer für mehr Gleichberechtigung, auch in der Familie. Aber wir sind noch nicht am Ziel. Am kompliziertesten ist es vielleicht im Bereich der Intimität, der Sexualität. Es ist sehr schwierig, Gewohnheiten zu ersetzen, die seit Adam und Eva verankert sind. Wir brauchen unbedingt neue Formen der sexuellen Zivilisiertheit zwischen Mädchen und Jungen, zwischen Männern und Frauen.
Das Gespräch führte Mirjam Mathis.