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Mobilmachung für den Krieg Wie will die Ukraine zusätzliche 450'000 Soldaten rekrutieren?

Die ukrainische Armee braucht zusätzliche Soldaten – und zwar bis zu einer halben Million. Eine Herkulesaufgabe.

Woher könnten die zusätzlichen 450'000 Soldaten kommen? Momentan dienen ungefähr eine Million Soldaten in der Armee, sei es an der Front oder in anderen Bereichen. Laut groben Schätzungen «beträgt das Mobilisierungspotenzial der Ukraine im Moment noch etwa sieben bis acht Millionen Männer im wehrpflichtigen Alter», sagt der ukrainische Journalist Denis Trubetskoy. Doch: «Viele Männer sind für die Einberufungsämter nicht auffindbar.»

Wehrpflichtigen Männern ist die Ausreise grösstenteils untersagt. Warum ist es dennoch so schwierig, Rekruten zu finden? Ein Problem sei, dass viele Männer sich nicht dort aufhalten, wo sie gemeldet sind, so Trubetskoy. Sie waren vor dem Krieg nicht verpflichtet, ihren Wohnortwechsel beim Einberufungsamt zu melden. Und: «Nach Kriegsbeginn kamen noch Millionen Binnenflüchtlinge hinzu.» Das Verteidigungsministerium will nun mit einem elektronischen Register für Wehrpflichtige Abhilfe schaffen. Dieses sammelt Daten der Staatsbehörden, der Steuerbehörde oder des Wahlregisters und will so die Wehrpflichtigen ausfindig machen.

Auch ein Problem der Motivation?

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Zwar dürfen Männer im wehrfähigen Alter zwischen 18 und 60 Jahren nicht ausreisen, dennoch steigen laut der Nachrichtenagentur DPA die Fluchtzahlen. Wie vielen die Flucht gelingt, ist nicht bekannt. Doch allein in den EU-Staaten waren im Oktober nach Eurostat über 700'000 ukrainische Männer zwischen 18 und 64 Jahren als Flüchtlinge registriert.

So muss Selenski für das dritte Kriegsjahr nicht nur angesichts bröckelnder finanzieller Unterstützung durch die westlichen Verbündeten bangen – trotz der dort schwindenden Reserven bittet er eindringlich um Waffen und Munition. Vor allem erwartet die eigene Militärführung von ihm eine Lösung des Personalproblems. Täglich gibt es viele Tote und Verletzte, Tausende ukrainische Soldaten sind in Gefangenschaft.

Nach Berichten über miserable Einberufungsziffern, systematischen Freikauf vom Wehrdienst und korrupte Chefs der Einberufungsstellen entliess Selenski im August alle Regionalchefs der Kreiswehrersatzämter. Dennoch brachen die Mobilisierungszahlen weiter ein.

Quelle: DPA

Wie würde eine Online-Mobilmachung konkret aussehen? Zum einen soll die klassische Mobilmachung mit dem neuen, elektronischen Register verbessert werden. Parallel soll eine «freiwillige Alternative zur Mobilmachung» aufgebaut werden, sagt Trubetskoy. Dort könne man sich online bewerben, Tests und eine Ausbildung durchlaufen. «Der Punkt ist, dass man in der Position in der Einheit landet, für die man sich auch beworben hat.» Die Einberufungsämter würden hier aussen vor bleiben. Denn relativ viele Männer hätten zwar Interesse am Dienst, befürchten aber, dass die Einberufungsämter teils korrupt seien: Sie hätten Angst, dass sie nicht in der gewählten Einheit, sondern schnell an der Front landen könnten.

Welche Truppengattungen haben am meisten Bedarf? Vieles ist geheim. Aber: «Die Infanterie spielt in diesem Krieg eine sehr grosse Rolle.» Bei den hohen Zahlen von 450'000 bis 500'000 Menschen könne man davon ausgehen, dass es insbesondere um die Infanterie gehe.

Vorne Mann in Militärkleidung, hält lange Waffe, dahitner stehen vier Armee-Männer, schauen zu. Stehen im Schnee.
Legende: Seit Monaten fordern die ukrainischen Kommandeure mehr Männer für den Fronteinsatz. (Bild: 30.11.2023) Keystone / EPA / Oleg Petrasyuk

Ist es auch ein Thema, Frauen für den Militärdienst an der Front anzuwerben? Spekuliert wurde viel darüber, sagt Trubetskoy. Mehrere 10'000 Frauen dienten freiwillig in der Armee. «Der Zukunftsplan, über den Krieg hinaus, sieht vor, dass künftig Männer und Frauen gleiche Chancen bei der Armee bekommen.» Aktuell sei aber die Pflichtmobilmachung der Frauen kein Thema. Diskutiert wird hingegen, dass Männer schon ab 25 statt 27 Jahren einberufen werden, explizit für den Kriegsdienst. Ein Gesetz hierzu liegt bei Selenski zur Unterschrift.

Eine zusätzliche Mobilmachung soll laut Selenski über 11 Milliarden Franken kosten. Kann die Ukraine das überhaupt bezahlen? Laut Trubetskoy ist der Betrag eine Herausforderung: «Das ist ungefähr die Hälfte des Haushaltsdefizits.» Momentan fliessen alle Steuereinnahmen der Ukraine ins Militär: in Soldatengehälter oder Kompensationen an die Familien der Gefallenen. Die andere Hälfte des Budgets bestehe aus Auslandshilfen und Krediten. «Und wir wissen, dass die Lage mit der westlichen Hilfe aktuell nicht so rosig ist.» Es werde schwierig – doch wenn es wirklich nötig werde, könne die Regierung zumindest einen bedeutenden Teil dieser Summe zusammenkriegen, glaubt Trubetskoy. Doch die Ukraine müsse viel mehr mobil machen: «Vorerst werden es wohl keine 450'000 Soldaten werden.»

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SRF 4 News, 20.12.2023, 00:30 Uhr ; 

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