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Ein Mann singt auf der Strasse.
Legende: Protestlied gegen die Coronamassnahmen – «Danser encore» von Kaddour Hadadi. Keystone / Raymond Roig

Musik gegen Missstände Die Soundtracks der globalen Protestbewegungen

Die emotionalisierende Wirkung der Musik wird rund um den Globus im Kampf für eine bessere Welt eingesetzt.

Protestsongs prangern «Klassiker» an, wie Krieg und Korruption. Es tauchen aber auch neue Themen auf – zum Beispiel die Verkehrssicherheit oder die Fortführung des kulturellen Lebens.

Protestsongs an sich sind kein neues Phänomen. Doch viele der aktuellen Protestsongs unterscheiden sich von früheren Werken. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie ohne Zutun von Musik-Labels und bekannter Künstlerinnen und Künstler geschaffen werden und ausgelöst durch ein Ereignis in der Öffentlichkeit auftauchen. Oft stecken bislang unbekannte Musikschaffende dahinter. Eine zentrale Rolle spielen dabei die sozialen Medien, die zu einer raschen und wirkungsvollen Verbreitung der Songs beitragen.

Kuba: «Vaterland und Leben» statt «Vaterland oder Tod»

Allein der Titel ist eine Provokation erster Güte für das kommunistische Regime in Kuba: Denn «Patria y vida» («Vaterland und Leben») spielt auf den alten revolutionären Kampfslogan «Vaterland oder Tod» an. Die Hauptbotschaft des Songs, den einige bekannte kubanische Sänger und Rapper herausgegeben haben, lautet: Wir haben genug von den alten Kampfparolen; 60 Jahre nach der Revolution wollen wir keine Ideologie mehr; nicht Vaterland oder Tod, sondern Vaterland und Leben!

Keine Lügen mehr, mein Volk bittet um Freiheit, lassen Sie uns nicht länger ‹Heimat und Tod›, sondern ‹Heimat und Leben› rufen.
Autor: Ausschnitt aus «Patria y vida»

Kuba steckt derzeit in der schlimmsten wirtschaftlichen Krise seit über 30 Jahren. Selbst Grundnahrungsmittel sind knapp. Vor den Läden bilden sich immer wieder lange Schlangen und der Unmut wächst. Das kommunistische Regime hat auch deshalb harsch reagiert auf «Patria y Vida». Die Musiker wurden in den staatlichen Medien als Vaterlands-Verräter tituliert. Und die Regierung hat regimetreue Musiker aufgefordert, Gegen-Songs zu komponieren. Genützt hat diese musikalische Gegenoffensive wenig. Die Popularität von «Patria y vida» zeigt: Menschen kann man einsperren, nicht aber Ideen oder Lieder.

Kolumbien: Indigene liefern den Protest-Soundtrack

Junge Menschen in ganz Kolumbien protestieren gegen die Ungleichheit im Land und gegen die Polizeibrutalität, die sie auch selber zu spüren bekommen. Es gibt über 170 Verfahren gegen Polizisten wegen Gewalt und Mord an Demonstrierenden. Es ist allerdings die indigene Bewegung Kolumbiens, welche den Protesten eine Melodie gibt: Überall wo die Proteste in Kolumbien Halt machen, erklingt der Marsch  «Guardia Fuerza». «Die Hymne lädt uns ein, das Leben zu verteidigen, Mutter Erde zu verteidigen, aber auch auf uns selbst aufzupassen», sagt der Autor des Liedes, der indigene Aktivist Luis Manuel Sánchez. 

Die Hymne lädt uns ein, das Leben zu verteidigen. Wächter ist derjenige, der sein Leben beschützt.
Autor: Luis Manuel Sánchez Sänger und Aktivist

Inzwischen haben sich bekannte kolumbianische Musikerinnen und Musiker zusammengefunden, um das Lied neu aufzunehmen. Mit dabei sind Rapper und Rock-Musiker. Das Video ist auf YouTube ein Renner, am Radio ein Ohrwurm. Sogar das bekannte Philharmonische Orchester von Bogotá interpretiert den Titel – ein Ritterschlag. Offen ist, ob das Lied dazu beiträgt, politische Änderungen in Kolumbien zu erzielen.

Libanon und Irak: Mit «Bella Ciao» gegen die Korruption

«Bella ciao» ist ein altes Partisanenlied aus dem 19. Jahrhundert. Doch seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist es auch als Lied der Unterdrückten bekannt – und kommt immer wieder bei Protesten gegen die Mächtigen zum Einsatz. So im Jahr 2019 auch in Libanon und im Irak, und zwar auf Arabisch. Dass dem so ist, hat auch mit der Netflix-Serie «Haus des Geldes» zu tun. Dort feiert eine Räuberbande, die in die Nationalbank eingedrungen ist, ihren Coup, indem sie «Bella Ciao» singt.

Die Bevölkerung im Irak und in Libanon hat genug von korrupten Regierungen, die ihr Volk ausrauben. Die Bevölkerung will ihr Geld und ihre Zukunft zurück.
Autor: Susanne Brunner Nahost-Korrespondentin SRF

Das trifft im Nahen Osten einen besonderen Nerv: hier hat die Bevölkerung im Irak und in Libanon genug von korrupten Regierungen, die ihr Volk ausrauben. Die Bevölkerung will ihr Geld – und ihre Zukunft zurück. Den grossen Raub in der Netflix-Serie sieht sie als Rückeroberung ihrer maroden Institutionen – als revolutionären Akt. Seither ist «Bella Ciao» bei Protestaktionen gegen die Regierungen in diesen Ländern nicht mehr wegzudenken.

Bangladesch: Aufstand für mehr Verkehrssicherheit

Menschen protestieren auf der Strasse.
Legende: Menschen protestieren in Bangladesch auf der Strasse. Bei den Protesten 2018 stets dabei, das Lied «Left Right» von Sina Hasan. Keystone / MONIRUL ALAM

Es war kein Protest, der international gross für Aufsehen sorgte, aber in Bangladesch hat er etwas bewirkt. Im Sommer 2018 haben Zehntausende für mehr Sicherheit auf den Strassen protestiert. Dies, nachdem zwei Studentinnen von einem Schulbus in der Hauptstadt Dhaka überfahren worden waren. Der Fahrer hatte keinen Fahrausweis. Mit dabei war das Lied «Left Right» von Sina Hasan.

Ich wehre mich gegen das System, welches einerseits bei schweren Verkehrsunfällen ein Auge zudrückt und anderseits Kritiker hart bestraft.
Autor: Hasan Sina Musiker

Jeden Morgen auf dem Pausenplatz müssen die Schülerinnen und Schüler zur Nationalhymne marschieren und schwören, dem Staat etwas Gutes zu tun. Doch, und das fragt das Lied, was tut der Staat für sie? Diese Worte haben die Protestwelle ausgelöst. Die Regierung reagierte zuerst mit Gewalt und Repression, doch sie merkte bald, dass sie damit nicht durchkommt. Sie versprach eine Reihe von Gesetzesänderungen. Die Zahl an Verkehrstoten ist seither gesunken.

Das Video zum Protestsong

Frankreich: Protestlied gegen die Corona-Massnahmen

Die Corona-Pandemie hat Kulturveranstaltungen lange Zeit verunmöglicht. Viele Kulturschaffende standen und vor einer unsicheren Zukunft. Auch in Frankreich, wo die strengen Corona-Massnahmen noch einschränkender waren und noch länger dauerten als in der Schweiz. Der französische Musiker Kaddour Hadadi, genannt HK, hat damit nicht nur gehadert. Er hat seinen Frust in ein Chanson gepackt.

Ich verharmlose das Coronavirus überhaupt nicht. Aber ich stehe den Massnahmen der Regierung kritisch gegenüber.
Autor: Kaddour Hadadi Musiker

«Danser encore» war für die einen eine Hymne an die Kultur, für die anderen ein Protestlied gegen die Corona-Massnahmen. Das Chanson ging viral, wurde millionenfach angeklickt – und gesungen. Es gab viel Resonanz, auch aus der Kulturszene. Und es gab Kritik. Weil sich bei den Auftritten von HK und seiner Musikerinnen draussen auf den Plätzen Frankreichs nicht alle an die Maskenpflicht hielten. Und auch nicht an die Abstandsregeln.

Simbabwe: Missstände mit Musik statt Text aufdecken

In Afrika wird Musik regelmässig gebraucht, um die Mächtigen zu kritisieren, gesellschaftliche Normen zu hinterfragen oder regionale Sentiments zu untermalen. So auch in Simbabwe. Dort hat der bekannte Investigativ-Journalist Hopewell Chin'ono Anfang Jahr kurzerhand die Feder gegen das Mikrofon eingetauscht und prompt einen Hit gelandet. Der sehr improvisiert klingende Anti-Korruptions-Song «Dem Loot» ging viral in den sozialen Medien. Rund eine Minute Freestyle über die simbabwische Elite, die sich schamlos bereichert, während die Bevölkerung leidet.

Sie bedienen sich an der Staatskasse, während es an sauberem Trinkwasser und Medikamenten im Land mangelt.
Autor: Hopewell Chin'ono Journalist und Musiker

Es ist Dancehall Musik, um die jungen Menschen im Land zu erreichen, die lieber Musik hören als Enthüllungsartikel lesen. Es hat funktioniert. Fast 200’000 Menschen sahen das Video auf Twitter, es hagelte Tausende Likes und innert Kürze kursierten diverse Varianten des Lieds auf den sozialen Medien. «Dem Loot... Sie plündern und rauben, die Politiker, die sich bedienen an der Staatskasse, während es an sauberem Trinkwasser, Jobs, Medikamenten im Land mangelt.»

Polen: Ein Punkrocker mischt sich ein

Grabaz in seinem Garten.
Legende: Grabaz in seinem Garten. SRF

Polen ist ein politisches gespaltenes Land. Die Anhängerinnen und Anhänger der Regierungspartei und deren Gegnerinnen und Gegner stehen sich völlig unversöhnlich gegenüber. Diese Unversöhnlichkeit zeigt sich auch in der Musik – etwa bei jener von Punkrocker Krzystof Grabowski, Künstlername Grabaz. In seinen Songs kritisiert er die aktuelle Regierung. Sie habe totalitäre Züge, und sie verbreite Hass. Zwar habe es den Hass auf die Fremden und Andersartigen in Polen schon immer gegeben, sagt der Historiker.

Wie bei einem Wald ist es leicht ein Feuer zu entfachen. Aber es dauert Jahrzehnte bis die Bäume nachwachsen.
Autor: Punkrocker Grabaz

Aber Jaroslaw Kaczynski, der Chef der polnischen Regierungspartei, wisse genau, wie man dieses Unterholz der Vorurteile in Brand setze. Wie bei einem Wald ist es leicht ein Feuer zu entfachen. Doch es daure Jahrzehnte, bis die Bäume nachwachsen. Er glaube deshalb nicht, dass die polnische Gesellschaft ihre Spaltung je überwinden werde. Dass sich der Punkrocker in die Politik einmischt, gefällt nicht allen in Polen – auch nicht allen Fans. Aber Grabaz kann nicht anders. Er wird auch weiterhin über seine Hassliebe zu Polen singen.

Ungarn: Die Politik kritisieren – aber ohne Subventionen

Musikproduzent Tamas Rupaszov.
Legende: Musikproduzent Tamas Rupaszov. SRF

Musik in Ungarn hat es schwer, wenn sie politisch sein will. Eigentlich gäbe es in dem Land, das heute weder eine Demokratie im westlichen Sinn noch eine Diktatur ist, viel Stoff für politische Lieder. Doch wer in Ungarn Musik macht und Musik produziert, der erzählt, dass ein subtiles System der (Selbst-)Zensur entstanden ist – anders als zu kommunistischen Zeiten, aber genauso effizient. Schwer hat es vor allem jene Musik, die sich nicht allein kommerziell rentiert.

Die Subventionen werden an Bands gehen, die Bedeutsames zu sagen haben.
Autor: Zoltan Kovacs Sprecher der Regierung

Staatliche Unterstützung bekommen nur jene Künstlerinnen und Künstler, die «Bedeutsames» zu sagen haben, wie es ein Sprecher der Regierung von Viktor Orban formuliert. «Bedeutsam» sind zum Beispiel Variationen über die Nationalhymne. Orbans Leute hätten es zudem nicht nötig, jemandem die Bühne zu verbieten, sagt Musikproduzent Tamas Rupaszov. Die Parteisoldaten, Konzertveranstalter in Jugendzentren, in Musiksälen, überall, wo staatliches Geld drin sei, zensierten sich von sich aus – in der Hoffnung, den Mächtigen zu gefallen.

Musik als politisches Werkzeug

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Drei Musikerinnen auf einem Bahnwagen.
Legende: Protestmusik in Russland Mitglieder der Punk-Rock-Band Pussy Riot 2013 auf einem Bahnwagen. Keystone

SRF-Musikredaktor Claudio Landolt über die Bedeutung von Musik in Protestbewegungen damals und heute.

Welche Elemente zeichnet einen Protestsong aus?

Ein Protestsong kämpft immer gegen etwas Bestehendes, oder für etwas Neues. Zudem weisen Protestsongs meist auf einen politischen oder sozialen Missstand hin und fordern indirekt auf, diesen Missstand zu verändern. Im Zentrum steht die Message, nicht die musikalische Form. Sein Gewicht erhält der Protestsong meist nicht über Verkaufszahlen oder Charterfolg, sondern dann, wenn er von einem breiten Publikum, einer Bewegung oder gar einer Generation angenommen und gesungen wird. Ein Protestsong ist ein Gegenentwurf, zu dem man gemeinsam singend oder hörend einstimmen kann.

Warum ist Musik für eine Protestbewegung wichtig?

Weil sie zum politischen Werkzeug werden kann. Musikstücke können zudem den Weg in die Zukunft weisen – als vorauseilende Fahnen, an denen sich eine Bewegung orientieren kann. Sie festigen die Kernbotschaften und Anliegen und rufen sie den Befürworter wie auch den Gegnerinnen einer Bewegung immer wieder von Neuem in Erinnerung.


Sind gewisse Perioden in der Musikgeschichte fruchtbarer für Protestsongs als andere?


Musikästhetisch betrachtet, gleicht die ganze Musikgeschichte einem ewigen Aufbruch und einem endlosen Protest. Die sozialpolitischen Protestsongs werden jedoch insbesondere dann lauter gesungen, wenn das Leid oder Ungleichgewicht besonders gross ist. Die schwarzen Protestsongs ziehen sich so beispielsweise über mehrere Epochen, beginnen im frühen Blues als Auflehnung gegen die Sklaverei und Segregation, gehen über in die Protestsongs der späten 50er und 60er-Jahre in der historischen Hochblüte der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, und kommen heute vermehrt in den Songs der «Black Lives Matter»-Bewegung zum Ausdruck.

Welches sind für Sie die wichtigsten Protestsongs der jüngeren Zeit?

  • Kendrick Lamar – «Alright»
  • Ramy Essam – «Irhal»
  • Sault – «Wildfires»
  • The 1975 – «The 1975 feat. Greta Thunberg»
  • Pussy Riot – «I Can't Breathe»
  • Big Zis – «iCare»

Radio SRF 1, 27.07.2021, 10:03 Uhr ; 

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