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Nach Terroranschlägen Molenbeek will nicht mehr ein Nest von Terroristen sein

In Molenbeek wuchsen einige der Terroristen der Anschläge in Paris und Brüssel auf. Jahre nach den mörderischen Anschlägen kämpfen die Einwohnerinnen und Einwohner der Vorortsgemeinde immer noch gegen Vorurteile.

Vor der Tür steht ein aufgemotzter Porsche, auf dem Tisch liegt ein goldfarbener Revolver, hinter Hamid El Abouti stapeln sich Berge von Prozessakten.

Ein schwarzer Porsche mit gelben Streifen steht am Strassenrand.
Legende: «Ist kein Fiat..., machen wir uns nichts vor». So kommentiert Anwalt El Abouti den Blickfang vor seiner Kanzlei. SRF/ Charles Liebherr

Der Milieu-Anwalt aus Molenbeek erlebt fast täglich die Schmach, in Molenbeek aufgewachsen zu sein. «Wenn ich meine Klienten in einem Gefängnis ausserhalb von Brüssel besuche, dann kontrollieren die Wärter fünfzigmal mein Anwaltspatent.» Als hätte er seine Ausbildung in Casablanca absolviert.

«Das ist doch eigentlich unglaublich», sagt El Abouti und schüttelt den Kopf. Sein Vater, von Industriebetrieben als billige Arbeitskraft aus Marokko nach Molenbeek gerufen, lernte weder Schreiben noch Lesen. Trotzdem sorgte er dafür, dass sein Sohn nicht aus der Bahn fällt.

Der Anwalt sitzt in seinem Büro. Er trägt eine grosse Brille. Hinter im steht eine Pflanze und ein Gestell.
Legende: Milieu-Anwalt El Abouti spielt gerne mit Klischees, um die Sprache seiner Klienten zu sprechen. SRF/ Charles Liebherr

El Abouti studierte Recht an der Freien Universität von Brüssel. Es kommt trotzdem immer noch vor, dass ihn Kolleginnen und Kollegen am Strafgericht scheinheilig fragen, wo er denn studiert habe.

Die Jungen ziehen sich zurück

Mohamed el Ghalbzouri kennt das bestens. Er studierte Soziologie und schloss sein Studium mit einer Feldforschung in seiner Heimatgemeinde ab.

Noch schlimmer ist es, mit Terroristen gleichgesetzt zu werden.
Autor: Mohamed el Ghalbzouri Soziologe

Er wollte unter anderem wissen, ob seine Nachbarn die gleichen vorwurfsvollen Blicke in der Metro erleben und wie sie darauf reagieren. Das prägte den jungen Forscher nach den Terroranschlägen im Jahr 2016 . Auch er fühlte sich an den Pranger gestellt, mit Terroristen gleichgestellt.

Sich als Ausländer zu fühlen, sei das Eine. «Noch schlimmer ist es, mit Terroristen gleichgesetzt zu werden.»

Die Ergebnisse seiner Studie müssten die Brüsseler Behörden eigentlich alarmieren. Viele Junge ziehen sich nämlich zurück, treffen sich nur noch mit Gleichgesinnten aus Molenbeek, haben Respekt, in ihrer Freizeit Molenbeek zu verlassen.

Eine Strasse mit Häusern. Am Strassenrand stehen immer wieder parkierte Autos.
Legende: Auf dem Wohlstandsindex von maximal 100 liegt Molenbeek knapp unter 60. SRF/ Charles Liebherr

«Die Jungen suchen Sicherheit. Ihr vertrautes Umfeld gibt ihnen diese Sicherheit», so el Ghalbzouri. «Die Stigmatisierung von Molenbeek hat eine lange Tradition.»

Molenbeek wird auch das Manchester von Belgien genannt. Auch das ist zweideutig. Es ist eine Anspielung auf die vielen roten Backsteinfassaden, aber eben auch auf den wirtschaftlichen Abstieg, nachdem viele Industriebetriebe ihre Werktore haben schliessen müssen.

Eine Strasse. Links und rechts davon stehen Häuser aus Backstein.
Legende: «Manchester von Belgien» bedeutet auch, dass die guten Zeiten weit zurückliegen. SRF/ Charles Liebherr

Armut ist heute in Molenbeek weit verbreitet. Wenn der Wohlstandsindex für Belgien bei 100 angesetzt wird als Referenz, dann liegt Brüssel im Vergleich bei 80 und Molenbeek bei weniger als 60. Das Stigma, arm zu sein, haftet allen Einwohnerinnen und Einwohnern an.

Es gibt auch eine Gegenbewegung

Fatima Zibouh, eine der Direktorinnen der Bewerbung Brüssels als Kulturhauptstadt Europas im Jahr 2030 , selber in Molenbeek aufgewachsen, glaubt, dass diese Vorurteile die Entwicklung von Molenbeek hemmten. Aber sie erkennt auch eine Gegenbewegung.

Fatima Zibouh steht in einem Zimmer und trägt rosarote Kleider. Dazu ein bordorotes Kopftuch.
Legende: Fatima Zibouh, Feministin und Muslimin aus Molenbeek, kämpft seit Jahren gegen das Stigma von Molenbeek. SRF/ Charles Liebherr

«Wie in vielen Gemeinden, über die ein Sturm der Entrüstung hereinbricht, wollen auch in Molenbeek viele Menschen ein anderes Bild vermitteln und schliessen sich zusammen.»

Ein gutes Beispiel ist hierfür das «Maison des Béguines» in einem Wohnquartier von Molenbeek. Das Quartierzentrum hat einen spektakulären Wandel geschafft. Vorher war es nämlich das «Café des Béguines».

Bis zu den Terroranschlägen gehörte das Café den Brüdern Abdeslam , den Terroristen: Brahim Abdeslam sprengte sich in Paris beim Konzerthaus Bataclan in die Luft – riss Hunderte mit sich in den Tod. Salah Abdeslam, der jüngere Bruder, muss sich in diesen Monaten in Brüssel vor Gericht verantworten als überlebender Attentäter.

Nun lebt das «Maison des Béguines» aber auf. Ein Kollektiv von Freiwilligen organisiert Aufgabenhilfen für Kinder, Velofahrkurse für Mütter, Sprachkurse für alle, Diskussionsveranstaltungen, Lesungen. Das Lokal ist manchmal Velowerkstatt, dann wieder Malatelier.

Das Haus ist aus Backstein und steht an einer Kreuzung.
Legende: Das «Maison des Béguines», ursprünglich ein Kaffee der Terroristen-Brüder, wandelte sich zu einem vielseitigen Treffpunkt. SRF/ Charles Liebherr

Sara wohnt seit einigen Jahren hier im Quartier. Die Ärztin und Mutter will hier alt werden. «Es ziehen viele Leute hierher und andere wieder weg. Das macht es manchmal etwas schwer, etwas aufzubauen. Ich mag das aber sehr. Molenbeek bleibt in Bewegung.»

Vorurteile auch auf dem Fussballplatz

Von Berufes wegen bleibt auch Hibo Ahmed immer in Bewegung. Sie trägt die Kapitänsbinde des RWD Molenbeek Girls und ist als Social Coach vom Club angestellt.

Die Sportlerin betreut junge Spielerinnen während ihrer Laufbahn. Hibo Ahmed beobachtet bei vielen Spielerinnen eine persönliche Entwicklung, die ausserhalb des Fussballclubs kaum möglich wäre. «Hier erhalten junge Frauen eine Aufmerksamkeit, welche sie sonst selten erhalten. Mir hat das sehr geholfen, meinen Platz auf dem Rasen, neben dem Spielfeld und im Leben als Frau zu finden.»

Auf dem Fussballfeld spielen Fussballerinnen.
Legende: 400 junge Frauen trainieren hier dreimal die Woche. Molenbeek war lange der erste und einzige Club im Frauenfussball. SRF/ Charles Liebherr

In Auswärtsspielen treten die Spielerinnen freilich immer noch gegen Vorurteile an. Die Gäste sind nicht selten überrascht über so viel Fairplay auf der Gegenseite. «Das macht uns etwas stolz. Weil uns das zeigt, dass wir Botschafterinnen eines anderen Bildes von Molenbeek sein können.»

Auf dem Kunstrasen setzt Hibo Ahmed den linken Fuss neben den Ball und schlägt ihn mit ihrem rechten Fuss in einem weiten Bogen gezielt ins Tor.

Alltag in Molenbeek.

International, 25.02.2023, 06.33 Uhr

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