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Nato-Treffen in London Feindbild weg, Glaubwürdigkeit dahin

Stellen Sie sich vor, Sie feiern Hochzeitstag, aber Ehepartner und Kinder haben in der Agenda keine «Feier» eingetragen, sondern ein «Treffen» – und bereiten sich auf einen Familienkrach vor.

So ähnlich ergeht es der Nato an ihrem 70 Geburtstag. Der ursprünglich geplante feierliche «Gipfel» in London wird nur noch als «Treffen» eingestuft. Denn die Nato steckt in einer der schwersten Krisen ihrer Geschichte.

Der französische Präsident Emmanuel Macron hat sie für «hirntot» erklärt und wurde dafür von seinen Bündnispartnern heftig kritisiert, etwa von der deutschen Kanzlerin Angela Merkel, aber auch vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan.

Wie konnte es soweit kommen? Und: Ist die Nato wirklich todgeweiht?

  • Die Nato wurde als Bollwerk gegen die Sowjetunion gegründet, und viele Nato-Staaten, vor allem osteuropäische, sehen in Russland nach wie vor die grösste Bedrohung. Für west- und südeuropäische Länder wie Frankreich oder Italien sind dagegen Afrika und der Nahe Osten die eigentlichen Gefahrenherde. Der Nato fehlt ein klares Feindbild.
  • Mehr noch: Es gibt keine gemeinsame Wahrnehmung sicherheitspolitischer Herausforderungen, etwa mit Blick auf Syrien. Die Gräben zwischen Mitgliedsländern wie den USA, der Türkei oder Frankreich und Deutschland erscheinen unüberbrückbar. Als militärisches Koordinationsforum taugt die Nato nicht mehr viel.
  • Das wäre halb so schlimm, wenn der Kern der Allianz unbestritten wäre: die Bündnistreue, Artikel 5 des Nato-Vertrags. Demnach unterstützen sich die Nato-Staaten bei einem militärischen Angriff gegenseitig. Aber würden sie das wirklich tun? «Je ne sais pas – ich weiss nicht», sagt Macron. Ohne Bündnistreue verliert die Nato ihre Glaubwürdigkeit.
  • Dazu kommt der Streit über die Ausgaben der Nato-Staaten für ihre jeweiligen Streitkräfte. 2024 sollen sie zwei Prozent der Wirtschaftskraft betragen. Doch viele Staaten sind davon weit entfernt. Der US-Präsident Donald Trump fordert, dass der Zwei-Prozent-Beschluss umgesetzt wird. Deutschland würde damit zum 70-Milliarden-Euro-Militärkoloss, noch vor den Atommächten Grossbritannien, Russland oder Frankreich. Wozu eigentlich? Viele Europäer glauben, Trump gehe es bloss darum, der eigenen Rüstungsindustrie Aufträge zu verschaffen.
  • Wobei er sich nicht einmal mehr darauf verlassen kann, dass die Nato-Partner vor allem Waffen «Made in USA» kaufen. Die Türkei hat gerade das russische Raketenabwehrsystem S-400 beschafft. Das ist zwar nicht verboten, doch die USA fürchten, dass Geheiminformationen in russische Hände gelangen könnten. Sie wollen der Türkei im Gegenzug keine F-35-Kampfjets liefern.

Die einzige gute Nachricht für die Nato: Das internationale System ist bisweilen erstaunlich träge. Die Generäle in den USA, der Türkei und Europa halten die Nato – noch – für unverzichtbar. Macron will zwar, dass die Europäer ohne Amerikaner und Türken für ihre Sicherheit sorgen. Doch seine Vorschläge sind schwammig – und noch umstrittener als die Nato selbst.

Ohne eine unvorhersehbare Megakrise wird die Nato ihren 80. Geburtstag daher vermutlich noch erleben. Doch ewiges Leben ist ihr nicht beschieden. Bereits heute wirkt sie wie aus der Zeit gefallen.

Sebastian Ramspeck

Internationaler Korrespondent

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Sebastian Ramspeck ist internationaler Korrespondent für SRF. Zuvor war er Korrespondent in Brüssel und arbeitete als Wirtschaftsreporter für das Nachrichtenmagazin «10vor10». Ramspeck studierte Internationale Beziehungen am Graduate Institute in Genf.

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