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Nazi-Vorwürfe aus der Türkei «Erdogan stellt Abstimmungskampf über alles»

Der Präsident muss aufs Ganze gehen: Die Faschismuskeule gegen Europa gibt seinem Referendum nochmals richtig Schwung.

Die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei sind auf dem Tiefpunkt: Der «Welt»-Journalist sitzt in der Türkei wegen abstruser Vorwürfe in Untersuchungshaft, Präsident Recep Tayyip Erdogan deckt Europa mit Faschismusvorwürfen ein. Gerade am Sonntag bekam Bundeskanzlerin Angela Merkel wörtlich zu hören: «Du wendest auch gerade Nazi-Methoden an.» Fragen zur aktuellen Entwicklung an die Journalistin Luise Sammann in Istanbul.

SRF News: Warum wiederholt Erdogan ständig seine Nazi-Vergleiche?

Luise Sammann: Es ist inzwischen offensichtlich, dass er einen Skandal am Laufen halten will. Darum schüttet er immer wieder Öl ins Feuer und denkt auch nach den letzten zwei Wochen nicht daran, aufzuhören. Die Strategie kommt in der Türkei auch gut an. Nach dem Streit mit den Niederlanden über Wahlkampfauftritte türkischer Politiker frohlockten AKP-Parlamentarier offen. Man müsse Europa für die Skandale dankbar sein, habe doch das Erdogan-Lager für das Referendum vom 16. April für ein Präsidialsystem zwei bis drei Prozentpunkte gutgemacht.

Erdogans Strategie kommt in der Türkei gut an.
Autor: Luise Sammann

Der ohnehin fast allmächtige Erdogan bekundet offenbar in letzter Zeit ein wenig Mühe, seine Wähler vom neuen System zu überzeugen. Da helfen Vorwürfe, Deutschland und die Niederlande zeigten ihre Arroganz und Übermacht und wollten die Türkei und ihre Wirtschaft kleinhalten. Die Menschen sollen an den einzigen starken Mann glauben, der den Europäern die Stirn bieten kann.

Hält niemand in der Türkei diese Nazi-Vergleiche für deplatziert?

Die wenigen verbliebenen Intellektuelle durchschauen die Wahlkampftaktik natürlich. Allerdings gibt es kaum noch kritische Medien, die nicht gleichgeschaltet sind. Nur gerade das Blatt «Cumhuriyet» könnte vermutlich die ganzen Nazi-Vergleiche noch kritisch hinterfragen. Ein Grossteil der Bevölkerung hat aber ein ganz anderes Bild von diesem Konflikt und geht einig mit den Aussagen Erdogans.

Der inhaftierte deutsch-türkische Journalist Yücel soll jetzt als Terrorhelfer und Spion vor Gericht. Was bezweckt Erdogan damit?

Das geht in die gleiche Richtung. Der Name Deniz Yücel ist inzwischen für die Türken ein Begriff. Sie halten ihn getreu dem aufgebauten Bild für einen Agenten – geschickt aus Deutschland, um der Türkei zu schaden. Das kommt an. Taxifahrer etwa fragen mich als Deutsche ganz offen, warum meine Regierung diesen Agenten und Terroristen hierhergeschickt habe. Das zeigt, dass Erdogan sein Ziel erreicht hat.

Taxifahrer fragen mich offen, warum Deutschland diesen Agenten und Terroristen hergeschickt hat.
Autor: Luise Sammann

Yücel wird ein Rechtsbeistand aus dem deutschen Konsulat verweigert. Was heisst das für den Prozess?

Das ist schwer abzusehen. Viele Regierungskritiker bezweifeln, dass in der Türkei noch ein fairer Prozess stattfinden kann. Seit dem Putschversuch im vergangenen Juli wurden Tausende Justizbeamte ausgetauscht. Trotzdem hoffen wir alle, dass es ein unabhängiges Verfahren für Yücel geben wird. Es ist unser Kollege, und wir alle wissen, dass an den Vorwürfen nichts dran ist.

Ist es Erdogan egal, dass er mit seinem Verhalten auch das Verhältnis zu anderen EU-Staaten zerrüttet?

Erdogan braucht ein Ja des Volkes muss es hinter sich wissen. Alles andere wäre gemäss Beobachtern der Anfang vom Ende seiner politischen Karriere. Entsprechend ist Erdogan bereit, jedes Risiko einzugehen, um den Sieg zu erringen.

Es geht für Erdogan bei diesem Referendum ums politische Überleben.
Autor: Luise Sammann

Das Gespräch führte Claudia Weber.

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