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Neue Partei in Deutschland Sahra Wagenknecht und die Beschwörung der Katastrophe

Gegen Mittag steht das Abendland gefühlt kurz vor dem Untergang. Sahra Wagenknecht betritt die Berliner Bühne – es ist ihre Show, von A bis Z. Sahra Wagenknecht im Kampf gegen eigentlich: alle. Heute trifft sich ihre neue Partei, das «Bündnis Sahra Wagenknecht» zum ersten Parteitag. Das Kino Kosmos im Berliner Osten ist zum Bersten voll, voll mit Fans und damit neuen Parteimitgliedern.

Wagenknecht will die Unzufriedenen abholen

Sahra Wagenknecht ist mit ihrem Ehemann, dem ehemaligen deutschen SPD-Finanzminister Oskar Lafontaine, gekommen. Der sitzt im Publikum, lauscht seiner Frau, die weiss: Sie muss heute die Rede ihres Lebens halten. Dann legt sie los: «Wir machen uns jetzt gemeinsam auf den Weg, die Politik in Deutschland zu verändern. Wir tun das, weil wir spüren, da ist etwas am Kippen in unserer Gesellschaft. Es gibt so viele Probleme, so viel Unsicherheit, aber auch so viel Empörung und Wut.»

Klingt ziemlich nach Populismus – Wagenknecht will die Unzufriedenen abholen – und das sind aus ihrer Perspektive eigentlich alle hier in Deutschland. Gegängelt, ausgegrenzt, nicht ernst genommen vom «Trio Infernale» aus Scholz, Habeck, Baerbock. Und CDU-Chef Friedrich Merz sei ja wohl auch keine Alternative. Wenn jetzt nicht etwas geschehe, könnte es «in eine Katastrophe münden». Und als Retterin kommt natürlich nur eine infrage, sie selbst: Sahra Wagenknecht.

«Ich allein gegen alle»

Oft der Putin-Freundlichkeit bezichtigt (welche sie abstreitet), schimpft Wagenknecht gegen die Russland-Politik der EU und damit Deutschlands. Die Waffenlieferungen nach Kiew seien einzustellen, «da die ukrainischen Generäle selbst nicht mehr an einen Sieg glauben». Die Sanktionen müssten ebenfalls weg und durch die Pipelines nach Deutschland solle wieder russisches Gas fliessen.

Auch die Nato sei einzuhegen und die EU gleich mit. Durch die Amerika-Freundlichkeit Europas werde Europa zwischen den Machtblöcken zerrieben und in Konflikte hineingezogen.

Gerade in den aussenpolitischen Fragen gibt es grosse Schnittmengen mit der AfD, der «Alternative für Deutschland». Also muss sich Wagenknecht auch hier abgrenzen, schliesslich ist ihre Formel: «Ich allein gegen alle.»

Auf Stimmenfang an den Rändern

Ob das verfängt, ist unklar. Zunächst, und das denkt auch die Berliner Meinungsforscherin von «Civey», Janina Mütze, wird Wagenknecht ihre alte Partei, «Die Linke», kannibalisieren. Dann gebe es aber eben auch bei der AfD ein grosses Potenzial.

Derweil schaut man bei SPD, CDU, den Grünen oder bei der FDP ziemlich gelassen auf Wagenknechts Auf- und damit Eintritt in die deutsche Polit-Landschaft. Sollen die sich an den Rändern mal alle schön zerfleischen – dies die geheime Hoffnung in den Berliner Parteizentralen.

Wird das aufgehen? Der erste Test ist im Juni die Europawahl – und dann im Herbst folgen die Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg. Wer wird die Geschichte vom Abendland am Abgrund glauben? Und schafft es die Wagenknecht-Partei damit in die Parlamente? Der politische Herbst 2024 wird wohl als einer der Interessantesten in die Geschichtsbücher eingehen. Der Untergang des Abendlandes aber wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausbleiben.

Stefan Reinhart

Leiter Ausland-Korrespondentinnen und -Korrespondenten

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Stefan Reinhart ist Leiter der Ausland-Korrespondentinnen und -Korrespondenten und Chef vom Dienst im Newsroom Zürich. Zuvor war er Deutschland-Korrespondent für SRF.

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Tagesschau, 27.01.2024, 19:30 Uhr

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