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Neuer Feind in Afghanistan Die Taliban tun sich schwer mit ihrer neuen Rolle

Seit über drei Monaten an der Macht, ist es nun an den Taliban, für Sicherheit in Afghanistan zu sorgen. Doch ein Ableger der Terrororganisation «Islamischer Staat» hat seit der Machtübernahme der Taliban an Stärke gewonnen – und kann für die neuen Herrscher in Kabul zum Problem werden.

Glaubt man den Worten der UNO-Abgeordneten für Afghanistan, Deborah Lyons, scheint der Islamische Staat bereits in fast allen Provinzen Afghanistans präsent zu sein. Mitte November sagte sie vor dem UNO-Sicherheitsrat: «Einst begrenzt auf einige wenige Provinzen in Afghanistan und Kabul, scheint der ISILKP heute in fast allen Provinzen präsent und stärker aktiv zu sein.»

ISILKP – wer steckt dahinter?

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ISILKP steht für den Namen des seit 2015 aktiven Ablegers des Islamischen Staates in Afghanistan: Islamischer Staat der Khorasan Provinz. Was so viel bedeutet wie die Ost-Provinz und laut Propaganda-Material des IS Afghanistan, Pakistan, Indien, Sri Lanka, die Malediven, Bangladesch und Teile Chinas umfassen soll.

Die IS-Terroristen in Afghanistan traten immer wieder mit brutalen Attacken in Erscheinung: auf Spitäler, Universitäten, Hochzeiten. Und jüngst mit einem Anschlag auf den Kabuler Flughafen letzten Sommer oder solchen auf schiitische Moscheen in Kundus oder Kandahar.

Dass die IS-Milizen mittlerweile in fast allen Landesteilen präsent sein sollen, bezweifeln viele Beobachter: «Der IS-Ableger hat kürzlich Schattengouverneure in den Provinzen ernannt, doch er ist weit davon entfernt, eine operative Basis in ganz Afghanistan gebildet zu haben», sagt Ibraheem Bahiss von der Denkfabrik International Crisis Group. Man könne nicht von einer Expansion des IS sprechen, sagt der Analyst, eher von einer Absichtserklärung.

Der IS-Ableger hat kürzlich Schattengouverneure in den Provinzen ernannt, doch er ist weit davon entfernt, eine operative Basis in ganz Afghanistan gebildet zu haben.
Autor: Ibraheem Bahiss Denkfabrik International Crisis Group

Die Zahl der Anschläge, zu denen sich der IS-Ableger in Afghanistan bekennt, habe seit der Machtübernahme der Taliban markant zugenommen, sagte die UNO-Abgeordnete Deborah Lyons vor dem Sicherheitsrat weiter. 60 seien es letztes Jahr gewesen, über 300 dieses Jahr. Das zeige, dass die Taliban nicht in der Lage seien, die Expansion der Terrorgruppe in Afghanistan einzudämmen.

Taliban auf Streife im Nordosten des Landes.
Legende: Taliban auf Streife im Nordosten des Landes. Keystone

Nach wie vor eine Randerscheinung

Doch auch da warnen Experten vor voreiligen Schlussfolgerungen. Etwa Thomas Ruttig vom Afghanistan Analyst Network: «Wir müssen bedenken, dass ein Bekenntnis zu einem Anschlag nicht immer automatisch mit Urheberschaft übereinstimmt. Man muss da auch die Propaganda-Kriegsführung von der Wirklichkeit trennen.»

Der IS bekenne sich oft zu allen möglichen Anschlägen, um sich grösser darzustellen als er tatsächlich ist, sagt Ruttig. In Afghanistan sei die Terrororganisation aber nach wie vor eine Randerscheinung: «Selbst, wenn es jetzt einen Zuwachs gegeben hätte in der Stärke des IS in Afghanistan, ist das immer noch eine sehr kleine Gruppe und sie ist bei weitem nicht in der Lage, die Macht der Taliban mittelfristig zu untergraben.»

Schicksal früherer Sicherheitskräfte: Auch Schweiz besorgt

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Mehr als drei Dutzend Staaten haben sich nach der Rückkehr der militant-islamistischen Taliban an die Macht in Afghanistan besorgt über das Schicksal von Sicherheitskräften der früheren Regierung geäussert. In einer gemeinsamen Erklärung verwiesen unter anderen die USA, die EU, Grossbritannien und die Schweiz am Sonntag auf einen Bericht, wonach seit Mitte August mehr als 100 ehemalige Soldaten, Polizisten oder Geheimdienstler hingerichtet wurden oder verschwanden. Dies stehe in klarem Widerspruch zur Straffreiheit, die die die Islamisten verkündet hatten.

«Wir betonen, dass die infrage stehenden Taten schwere Menschenrechtsverletzungen darstellen», heisst es in der Erklärung. «Wir fordern die Taliban auf, die Amnestie für ehemalige Angehörige der Sicherheitskräfte und ehemalige Regierungsbeamte wirksam durchzusetzen. Wir werden die Taliban weiterhin an ihren Taten messen.» Alle Verantwortlichen müssten zur Rechenschaft gezogen werden.

Zu den weiteren Unterzeichnern gehören beispielsweise die Ukraine, Japan, Kanada und Australien. (sda)

Als die neuen Garanten für Sicherheit gehen die Taliban mit schierer Gewalt gegen die IS-Zellen vor. Letzte Woche haben sie hunderte von Kämpfern nach Nangarhar geschickt, wo der IS bislang am stärksten vertreten war. Laut Taliban-Angaben, seien 40 mutmassliche IS-Kämpfer vor den Städten der Provinz erhängt und Dutzende weitere angebliche Kollaborateure geköpft worden.

Taliban-Überläufer?

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Berichte, dass frustrierte Talibankämpfer oder Angehörige der früheren Sicherheitskräfte zum IS übergetreten seien, halten beide Analysten für nicht fundiert genug. Anders als die Taliban sei die IS-Gruppe schlecht in der Bevölkerung verankert, sagt Thomas Ruttig: «Solche Bewegungen, wenn sie eine politische Wirkungsmacht entfalten wollen, brauchen eine soziale Basis. Und die hat der IS-Ableger in Afghanistan nicht.»

Ibraheem Bahiss von der Denkfabrik International Crisis Group weist aber darauf hin, dass trotz des schlechten Rufes des IS sich durchaus Afghanen der Terror-Organisation anschliessen könnten. «Die humanitäre Notlage zwingt viele Afghanen dazu, alle nur erdenklichen Mittel für ein Einkommen in Erwägung zu ziehen. Ein Sold einer Terror-Organisation inbegriffen.»

Über längere Frist könne das zu einer Bedrohung für die Taliban werden, meint der Analyst der International Crisis Group.

«Das brutale Vorgehen der Taliban gegen die IS-Zellen hat unbeteiligte Zivilistinnen und Zivilisten in Mitleidenschaft gezogen, einige kamen im Kreuzfeuer ums Leben», sagt Bahiss. Das mache die Taliban über längere Frist unbeliebt. Wie die US- und Nato-Truppen, als diese noch für die Sicherheit in Afghanistan verantwortlich waren.

«Die Taliban machen heute im Kampf gegen den IS in vielerlei Hinsicht dieselben Fehler, wie sie die Nato- und Regierungstruppen vor ihnen gemacht haben», sagt Thomas Ruttig. Das müsse aber nicht bedeuten, dass sich die Geschichte wiederhole und über kurz oder lang der IS in Afghanistan an die Macht kommen werde, «denn die Gefahr, die vom IS ausgeht für die Herrschenden in Kabul ist viel geringer als die Gefahr, die von den Taliban ausging für die damalige afghanische Regierung und die westlichen Truppen».

Die Taliban machen heute im Kampf gegen den IS in vielerlei Hinsicht dieselben Fehler, wie sie die Nato- und Regierungstruppen vor ihnen gemacht haben.
Autor: Thomas Ruttig Afghanistan Analyst Network

Wobei auch die Taliban heute schwächer dastehen als die Truppen der Regierung zu Zeiten der ausländischen Militärintervention. So kontrollieren die Taliban heute weniger Strassencheckpoints als die Regierungssoldaten vor ihnen.

Aber auch der IS ist schwach. Er hat im Moment nicht das Potenzial, die Macht der Taliban ernsthaft zu gefährden. Doch mit den Anschlägen kann er deren Ruf schädigen und somit deren Legitimität untergraben. Genauso wie es die Taliban mit den vorherigen Regierungen gemacht haben.

Es bleibt also, auch für die Taliban schwierig, in Afghanistan für Sicherheit zu sorgen.

Echo der Zeit, 1.12.2021, 18 Uhr

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