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Neues Schulfach in Russland Putins Ideologie soll an Hochschulen gelehrt werden

Zu Sowjetzeiten war die staatliche Ideologie obligatorischer Teil der schulischen und universitären Bildung. Das ist lange vorbei. Doch nun soll die antiliberale Weltsicht von Kremlchef Wladimir Putin systematisiert und in der Gesellschaft verankert werden.

«Grundlagen des russischen Staates»: So soll ein neues Fach heissen, das künftig an den Hochschulen Russlands gelehrt werden muss. Details seien keine bekannt, die staatlichen Bürokraten arbeiteten derzeit daran, sagt der russische Politologe Andrej Kolesnikow am Telefon.

Es geht darum, Putins autoritäre Herrschaft und die Anwendung von Repression zu rechtfertigen.
Autor: Andrej Kolesnikow Russischer Politologe

Aus einem kürzlich erlassenen Dekret von Putin lassen sich jedoch die Grundzüge des Projekts ableiten. Kolesnikow vermutet deshalb: Man werde die historischen Grundlagen des heutigen Systems betonen, die – angebliche – Effizienz der autoritären Herrschaft, den fast schon heiligen Charakter des Staates und man werde auf russische Traditionen und die besondere Rolle der russisch-orthodoxen Kirche verweisen. Dahinter stecke eine klare Absicht.

«Es geht darum, Putins autoritäre Herrschaft und die Anwendung von Repression zu rechtfertigen, ebenso die Isolierung des Landes vom Westen, der angeblich in der Geschichte schon immer versucht haben soll, Russland anzugreifen und zu schwächen», erklärt der Politloge.

Putins Weltsicht ist eine Mischung aus vor-sowjetischen und sowjetischen Ideen, kombiniert mit ultrakonservativen Werten.
Autor: Andrej Kolesnikow Politologe

Kolesnikow verfolgt seit Jahren die russische Innenpolitik und ist trotz Krieg und Zensur in Russland geblieben. Inzwischen ist er für die Denkfabrik «Carnegie Endowment for International Peace» tätig, die ihren Sitz in Washington hat. Der Experte erkennt in dieser Putin'schen Ideologie eine radikale Abkehr von der Moderne. Doch es werde schwierig, diese zu begründen.

Denn in Russland gebe es keine tief verwurzelten Traditionen, auch nicht auf dem Land. Die russische Gesellschaft habe sich schon zu Sowjetzeiten und erst recht in den letzten Jahrzehnten stark modernisiert. Das Leben in den grossen russischen Städten unterscheide sich heute kaum von dem in europäischen Metropolen.

Deshalb müsse ein Zurück zur Vergangenheit gut erklärt werden. Zumal es eine Vergangenheit sei, die es so gar nie gegeben habe, wie Kolesnikow sagt: «Diese verlorene russische Zivilisation existiert lediglich im Kopf von Putin und seinen engsten Gefolgsleuten. Es ist deren eigene, persönliche Ideologie.»

Putins Ideologie – kaum einer widerspricht

Diese Ideologie setzt sich zusammen aus historischen und religiösen Mythen, erfundenen Traditionen und Ressentiments. An sie scheine Putin tatsächlich zu glauben – etwas, was auch ihn sehr verwundere, so der Politologe: «Viele Jahre lang haben die Analytiker gesagt: Putin hat keine Ideologie, seine ist das Geld. Aber nun sehen wir, wie diese erfundene traditionelle Welt hier in Russland zur Wirklichkeit wird. Und das nur wegen Putins Weltsicht, die eine Mischung aus vor-sowjetischen und sowjetischen Ideen kombiniert mit ultrakonservativen Werten ist.»

Diese persönliche Ideologie wolle Putin der russischen Gesellschaft aufzwingen. Die Invasion der Ukraine, so Kolesnikow, sei Teil dieses Projekts. Doch: Lassen die Menschen in Russland das mit sich machen? Die Leute widersprächen nicht, sondern versuchten sich so gut wie möglich anzupassen, sagt Kolesnikow. Überhaupt: Das vorherrschende Gefühl in der Gesellschaft sei Gleichgültigkeit. Der starke Mann an der Spitze des Staates wisse schon, was gut für das Land sei. Hauptsache, man müsse keine Verantwortung übernehmen.

All das weist darauf hin, dass Putin sich auf einen langen Krieg vorbereitet.
Autor: Andrej Kolesnikow Politologe

Hinzu kommt: Die russische Regierung ist daran, die Bevölkerung mithilfe von Gesetzen von ausländischen Einflüssen abzuschotten, die sie als schädlich erachtet. Ausserdem werden die Menschen täglich durch staatliche Propaganda berieselt, die den Westen als verdorben und schwach darstellt. Und schliesslich ist die patriotische Erziehung bereits jetzt schon Realität: Den Kindern wird in der Schule eingetrichtert, dass es ein Glück sei, fürs Vaterland zu sterben.

Auch wenn viele diese Ideologie an sich abperlen lassen werden – wie das auch zu Sowjetzeiten der Fall war – manches wird vermutlich doch einsickern in das Bewusstsein der russischen Bevölkerung. Kolesnikow meint, all das weise darauf hin, dass Putin sich auf einen langen Krieg vorbereite. Auch wenn das ursprünglich so nicht geplant gewesen sei.

Info3, 11.01.2023, 17 Uhr

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