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Opfer des Krieges Wenn das IKRK die letzte Hoffnung ist

Im libanesischen Bürgerkrieg sind Tausende Männer und Frauen verschwunden - niemand weiss, ob sie noch leben oder nicht. Für die Angehörigen löst das seelische Qualen aus. Das IKRK versucht zu helfen. Die Reportage.

Es passiert jeden Tag. Menschen verschwinden – zum Beispiel in bewaffneten Konflikten. Ihre Angehörigen suchen sie, oft jahrelang. Aber sie erhalten nie Gewissheit, was mit ihnen passiert ist.

Nicht wissen, ob ein geliebter Mensch noch lebt oder tot ist, bedeutet für Angehörige grosses Leid. Um diese Angehörigen kümmert sich mitunter das IKRK. Es hilft ihnen aber auch, sich selbst zu helfen.

Im Libanon verschwanden beispielsweise Tausende während dem Bürgerkrieg zwischen 1975 und 1990 spurlos. Wie viele, das weiss bis heute niemand genau. Heute ist der Internationale Tag der Vermissten.

Viele, die im libanesischen Bürgerkrieg spurlos verschwanden, waren junge Soldaten. Ein solches Bild säumt die Strassen von Tyros.
Legende: Viele, die im libanesischen Bürgerkrieg spurlos verschwanden, waren junge Soldaten. Ein Bild eines Soldaten in Tyros. SRF

Ein Passfoto: schwarz-weiss, an den Ecken zerrissen, voller Faltspuren. Das ist alles, was Ibtihag von ihrem Vater geblieben ist. «Mit diesem Bild hat meine Mama meinen Vater gesucht,» sagt die Palästinenserin, die heute im südlibanesischen Tyros wohnt.

Ihr Vater verschwand 1976 in Naba'a, einem Vorort von Beirut, gleich am Anfang des libanesischen Bürgerkrieges. Soldaten trennten ihn von seiner Familie und brachten ihn weg. Ibtihag erinnert sich, wie ihre Mutter sieben Jahre lang jeden Tag nach ihm suchte.

Ein Passfoto mit Faltspuren ist Ibtihag von ihrem Vater noch geblieben.
Legende: Ein Passfoto mit Faltspuren ist Ibtihag von ihrem Vater noch geblieben. SRF

«Als wir Kinder morgens aufwachten, war unsere Mutter nicht da,» erinnert sie sich. Mit dem Passfoto irrte unsere Mutter jeden Tag durch die umkämpften Strassen in Beirut, an brennenden Gebäuden vorbei, und fragte jeden, ob er ihren Mann gesehen habe.

«Ich spüre, dass er noch lebt»

Für Ibtihag und ihre acht Geschwister eine harte Zeit. Ohne ihren Vater war kein Einkommen da. Ihre Mutter kümmerte sich kaum um sie: zu sehr war sie mit der Suche nach dem Vater ihrer Kinder beschäftigt.

Die Suche auf Social Media

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Als Ibtihags Mutter ihren verschwundenen Mann zu suchen begann, gab es noch keine Smartphones und keine sozialen Medien. Ein jahrzehntealtes Passfoto ist alles, was sie hatte. Angenommen, sie hätte damals Facebook, WhatsApp oder Instagram gehabt, wäre die Suche einfacher gewesen?

Ja und Nein, meint Meike Groen. Die holländische IKRK-Delegierte beschäftigt sich seit 15 Jahren mit der Suche nach Vermissten. Zur Zeit leitet sie das Programm Vermisste Personen im Libanon.

«Ein Wundermittel für die Suche nach Vermissten seien soziale Medien nicht,» sagt Meike Groen. Aber es gibt Erfolgsgeschichten.«Trace the Face» ist ein Facebook-Netzwerk des IKRK: Angehörige von Vermissten posten dort zum Beispiel ein Video, in dem sie sagen, dass sie jemanden suchen. Die Vermissten selbst erfahren dort, ob jemand nach ihnen sucht.

So hätten Familien Angehörige gefunden, die auf der Flüchtlingsroute waren und verschollen waren. Trotzdem: was soziale Medien nicht ersetzen, sind Kontakte mit Kriegsparteien und Behörden. Im Libanon war die Suche nach Vermissten jahrzehntelang politisch blockiert. Die Kriegsparteien hatten kein Interesse daran, allfällige Massengräber aufzumachen, die Gräueltaten ans Licht gebracht hätten.

Erst im vergangenen Jahr habe sich das libanesische Parlament auf ein Gesetz geeinigt, das Angehörigen bei der Suche nach Vermissten helfen soll.

Groen weist auch auf Datenschutz-Probleme für Angehörige von Vermissten hin: dieser werde von den sozialen Medien nicht gewährleistet.

Das IKRK setzt neue Kommunikationstechnologien ein – als ein Mittel unter vielen, die es für die Suche nach Vermissten braucht.

Solche Erinnerungen hat auch Nada aus dem nordlibanesischen Tripoli. 1983, ebenfalls während des Bürgerkrieges, verschwand ihr Bruder spurlos. Die Ungewissheit, ob er lebt oder tot ist, hat Nadas Familie geprägt.

«Das Essen verbrannte auf dem Herd, weil meine Mutter plötzlich weinen musste und alles liegen liess,» erinnert sich Nada.

Die psychischen Probleme ihrer Mutter machten ihren Vater wütend. Diese warf ihm ihrerseits vor, er fühle nicht, was sie als Mutter fühle.

Das Essen verbrannte auf dem Herd, weil meine Mutter plötzlich weinen musste und alles liegen liess.

Nadas Mutter starb, ohne ihren Sohn je wiedergesehen zu haben. Nun sucht Nada weiter. Sie stand ihrem Bruder sehr nahe. «Ich spüre, dass mein Bruder lebt,» sagt Nada. Ihr Bruder wäre heute gut 60 Jahre alt, Ibtihags Vater etwas über 80.

Nada engagiert sich beim IKRK-Programm, welches Angehörige von Vermitssten begleitet.
Legende: Nada mit ihrer Tocher Suad. Wird ein Familienmitglied vermisst, betrifft das mehr als eine Generation. SRF

Zwei Männer, vor 30, 40 Jahren im Bürgerkrieg verschollen - besteht jetzt denn überhaupt noch Hoffnung, zu erfahren, was mit ihnen geschah?

«Es gibt noch Hoffnung»

Auch nach so langer Zeit gebe es Hoffnung für die Angehörigen vermisster Personen, sagt Meike Groen. Die holländische IKRK-Delegierte beschäftigt sich seit 15 Jahren mit dem Thema. Zur Zeit leitet sie das Programm Vermisste Personen in Libanon.

Die Suche nach Vermissten in Libanon war jahrzehntelang politisch blockiert. Im vergangenen November hat das libanesische Parlament aber ein wichtiges Gesetz verabschiedet: dieses verankert das Recht zu wissen, was mit vermissten Angehörigen geschehen ist. Dafür soll eine Sonderkommission eingesetzt werden.

Das Internationale Rote Kreuz hat sich zusammen mit anderen Organisationen und der Zivilgesellschaft stark dafür eingesetzt und sammelt Daten, die der Kommission bei der Suche nach Vermissten helfen sollen.

«Was, du suchst ihn immer noch? Hör auf!»

Von 3000 Familien, die ihre Liebsten vermissen, hat das IKRK Speichelproben und andere wichtigen Informationen gesammelt. Auch von Nada und Ibtihag. Beide engagieren sich zudem beim IKRK-Programm, das Angehörige von Vermissten begleitet - denn diese fühlen sich oft verlassen. «Weil wir über unser Leiden nicht reden können,» sagt Nada.

«Wenn ich meiner Nachbarin sage, ich vermisse meinen Bruder, dann sagt diese: Was, du suchst ihn immernoch? Hör auf, das bringt doch nichts!» Seit einigen Jahren besucht Nada andere Angehörige von Vermissten: sie helfen sich gegenseitig – und reden über ihre Erinnerungen.

Ein Papierdrachen auf einem leeren Stuhl

«Als Kinder haben mein Bruder und ich oft die Schule geschwänzt und sind zum alten Bahnhof gerannt. Dort haben wir zusammen Papierdrachen gebastelt und sie steigen lassen,» sagt Nada.

Das Bild eines Papierdrachens hat Nada auf einen leeren Stuhl gemalt. Diese bemalten leeren Stühle werden nächstes Jahr vom IKRK in Beirut ausgestellt. Sie sollen daran erinnern: 30 Jahre nach dem Ende des Bürgerkrieges suchen noch immer Tausende ihre vermissten Angehörigen. Der Krieg ist für sie noch nicht vorbei.

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