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Pakistans Aussenminister «Die Situation kann völlig ausser Kontrolle geraten»

Der Kaschmir-Konflikt zwischen Indien und Pakistan schwelt seit Jahrzehnten. Doch jetzt, nachdem im August die nationalistische Hindu-Regierung in Delhi die umstrittene Region unter direkte Kontrolle brachte und den Autonomiestatus kippte, droht gar eine Explosion. Davon ist Pakistans Aussenminister Shah Mahmood Qureshi überzeugt. Er übertreibe nicht, betonte er am Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik GCSP im Interview mit SRF.

Shah Mehmood Qureshi

Aussenminister von Pakistan

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Shah Mehmood Qureshi ist ein pakistanischer Politiker. Er war Mitglied der Pakistanischen Volkspartei und dort ab 2008 als Aussenminister im Kabinett tätig. Aufgrund von Konflikten mit der Parteiführung trat er im Februar 2011 zurück. Im November 2011 trat er dann der Partei «Pakistanische Bewegung für Gerechtigkeit» bei. Seit dem 20. August 2018 ist er Aussenminister Pakistans.

SRF News: Sie haben im UNO-Menschenrechtsrat deutliche, ja scharfe Worte gewählt und Indien massiv beschuldigt wegen seines Verhaltens in Kaschmir. Wie gefährlich schätzen Sie die Lage dort ein?

Shah Mehmood Qureshi: Äusserst gefährlich. Ich fürchte, die Welt hat noch nicht zur Kenntnis genommen, wie delikat, wie gravierend die Lage ist. Was natürlich auch mit der Informationssperre zu tun hat, die Indien über die Region verhängt hat. Die Realität kommt deshalb bloss Stück für Stück ans Tageslicht. Aber die Lage ist gravierend.

Sind Sie enttäuscht, dass viele Länder den Blick abwenden vom Kaschmir-Konflikt und sich möglichst nicht einmischen wollen?

Es ermutigt mich, dass wenigstens die internationalen Medien sich bemühen, seriös zu berichten.

Viele europäische Regierungen nehmen zwar durchaus wahr, was in Kaschmir passiert, schweigen aber mehrheitlich aus politischen Gründen, um es mit Indien nicht zu verderben

Trotz aller Hindernisse, die man ihnen in den Weg legt, trotz der Reise- und Zugangssperren. Ich sehe ebenfalls mit Genugtuung, dass Menschenrechtsorganisationen reagieren. Ich stelle aber auch fest, dass viele europäische Regierungen zwar durchaus wahrnehmen, was in Kaschmir passiert, aber mehrheitlich schweigen aus politischen Gründen, um es mit Indien nicht zu verderben.

Wurde Pakistan überrascht von der Entscheidung des indischen Premierministers Narendra Modi, das Autonomiestatut für Kaschmir von einem Tag auf den andern abzuschaffen?

Ja. Es handelte sich um eine extreme Massnahme. Sogar in Indien selber wurden viele überrascht. Die indische Opposition will deswegen sogar das oberste Gericht des Landes einschalten.

Gewiss, die indische Führung hat schon länger darüber gesprochen, Kaschmir die Autonomie zu entziehen. Aber kaum jemand hat ernsthaft geglaubt, dass sie einen derart drastischen Schritt machen würden. Und damit sogar die indische Verfassung verletzen. Und ebenso Resolutionen des UNO-Sicherheitsrates, die UNO-Charta und Völkerrecht. Und damit zugleich die Kaschmiri gegen sich aufbringen.

Sehen Sie Möglichkeiten, die brandgefährliche und akute Krise beizulegen oder zumindest etwas zu entspannen?

Indien müsste sofort die Ausgangssperre in Kaschmir aufheben. Die Grundversorgung wieder herstellen, vor allem die Mobiltelefon- und Internetverbindungen. Kinder sollten wieder zur Schule gehen dürfen. Patienten sollten wieder Zugang zu Spitälern haben. Es geht darum, das Leben der Kaschmiri zu erleichtern. Und Indien muss der Region die Autonomierechte zurückgeben. Delhi muss eine Lösung suchen auf der Basis der Beschlüsse des UNO-Sicherheitsrates und so seine Verpflichtungen gegenüber der Völkergemeinschaft erfüllen.

Darum geht es im Kaschmir-Konflikt

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Karte Kaschmir
Legende: srf

Seitdem das frühere Britisch-Indien im Jahr 1947 unabhängig und in Indien und Pakistan geteilt wurde, streiten die beiden Länder um die Herrschaft über das Himalaya-Gebiet Kaschmir. Beide beherrschen jeweils einen Teil; ein weiterer Teil Kaschmirs gehört zu China.

Immer wieder kommt es im indischen Teil zu Gewalt zwischen Sicherheitskräften und Separatisten, die eine Abspaltung des überwiegend muslimischen Kaschmirs vom mehrheitlich hinduistischen Indien wollen. Indien wirft Pakistan vor, islamistische Kämpfer im indischen Teil zu unterstützen. Islamabad bestreitet dies.

Sind diese Punkte Vorbedingungen dafür, dass Pakistan bereit ist, mit Indien direkt zu verhandeln über den Konflikt?

Ich sehe momentan keine Chance für bilaterale Gespräche und Verhandlungen zwischen Pakistan und Indien. Die extremen Massnahmen Indiens haben uns zutiefst enttäuscht und jegliches Vertrauen zerstört. Als unsere Regierung vor gut einem Jahr antrat, haben wir versöhnliche Signale nach Indien gesandt, haben den Dialog gesucht. Doch die Regierung Modi war von Anfang an abweisend, wollte nicht mit Pakistan an einen Tisch sitzen.

Entsprechend sind nun auch viele Pakistaner enttäuscht und überzeugt, dass Indien einseitig seine Politik durchsetzen will. Die Regierung in Delhi verfolgt immer entschiedener die Politik rechtsextremer Hindu-Organisationen. Wieso sollten wir mit solchen Leuten zusammensitzen? Wir würden ja doch nichts erreichen. Es bräuchte deshalb zunächst eine Vermittlung von Dritten.

Nun sind Sie zurzeit in der Schweiz. Ende Woche ist Indiens Präsident Ram Nath Kovind zu Besuch. Sähen Sie die Schweiz in einer solchen Vermittlerrolle?

Nun, ich habe gehört, dass die Schweizer Regierung mit dem indischen Präsidenten auch über Kaschmir reden will.

Schliesslich geht es um Frieden und Sicherheit für eine ganze Weltregion.

Es ist gut, wenn sie dieses Thema diskutieren. Schliesslich geht es um Frieden und Sicherheit für eine ganze Weltregion.

Wie schätzen Sie das Risiko einer weiteren Zuspitzung zwischen Indien und Pakistan, zwischen zwei atomar bewaffneten Mächten ein?

Die Gefahr ist reell. Ich übertreibe nicht. Wir fürchten eine sogenannte «False-Flag-Operation» durch Indien, also dass sie einen Angriff auf sich selber verüben, um ihn dann Pakistan in die Schuhe zu schieben. Was natürlich zu einer Gegenreaktion führen würde. Und dann kann die Situation rasch völlig ausser Kontrolle geraten.

Samt einem neuen grossen und auch nuklearen Rüstungswettlauf?

Ja, wenn die Spannungen derart hoch bleiben, ist alles möglich.

Vorläufig betonen Sie allerdings, dass ein Krieg keine Option ist, dass man auf Diplomatie setzen muss…

Der Grund für unsere Zurückhaltung ist, dass wir sehr wohl sehen, dass ein Krieg zwischen zwei Atommächten Konsequenzen weit über Südasien hinaus hätte – und für beide Länder selbstmörderisch wäre.

Manchmal stolpern Nationen in einen Krieg.

Jeder, der bei Verstand ist, muss sagen, Krieg ist keine Option. Aber manchmal stolpern Nationen in einen Krieg und sie können dann die Situation nicht mehr beherrschen.

Unerfreulich ist zurzeit auch die Entwicklung an Pakistans westlicher Grenze, in Afghanistan. US-Präsident Donald Trump hat die Verhandlungen mit den radikalislamischen Taliban abrupt gestoppt. Pakistan hat diese Verhandlungen begrüsst und unterstützt. Ist das nun das Ende der Annäherung?

Noch hoffen wir, dass es sich nur um einen vorläufigen Stopp, eine Unterbrechung handelt. Zumal wir den Eindruck haben, dass es Fortschritte gab zwischen den USA und den Taliban. Sie sollten versuchen, doch noch ein Abkommen abzuschliessen.

Aber viele in den USA und nicht nur dort haben den Eindruck, die Taliban hätten viel zu geringe Zugeständnisse gemacht…

Andere Leute sehen die Dinge anders. Immerhin waren die Taliban zu Gesprächen bereit. Sie haben sich dem politischen Mainstream angenähert.

Es ist endlich Licht am Ende des Tunnels zu sehen.

Sie haben versprochen, dass afghanischer Boden nicht wieder von al-Qaida für Attacken gegen die USA missbraucht werden kann. Sie haben versprochen, den IS in Afghanistan zu bekämpfen. Das sind alles positive Entwicklungen. Darauf kann man aufbauen. Es ist also endlich Licht am Ende des Tunnels.

Welchen Einfluss hat Pakistan auf die Taliban? Manche sehen in Ihrem Land fast deren Schutzmacht…

Unser Einfluss auf die Taliban wird überschätzt. Sie haben ihre eigenen Ziele und Methoden, treffen ihre eigenen Entscheidungen. Was wir tun, ist als Vermittler aufzutreten. Wir ermuntern die Taliban, mit den USA an einen Tisch zu sitzen und zu verhandeln.

Und wie weit findet Pakistan Gehör in Washington?

Zwischen Pakistan und den USA findet eine Wiederannäherung statt. In Washington wie in Islamabad hat man inzwischen erkannt, dass es für Afghanistan keine militärische Lösung gibt. Es geht nicht ohne eine Verhandlungslösung. Diese Einsicht bringt die beiden Länder einander wieder näher. Wir arbeiten momentan gut zusammen.

Das Gespräch führte Fredy Gsteiger.

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