Das Leid in Gaza, das Leid der Israeli seit dem Terrorangriff der Hamas: Es falle vielen schwer, den Schmerz des anderen anzuerkennen, sagt Publizist und Politikwissenschaftler Aref Hajjaj. Er ist gebürtiger Palästinenser, lebt seit 60 Jahren in Deutschland und ist Vorsitzender des Palästina-Forums.
SRF News: Diese Woche hat der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes Haftbefehl gegen drei Hamas-Führer, den israelischen Premier Netanjahu sowie dessen Verteidigungsminister beantragt. Gefährdet dies einen Friedensprozess?
Aref Hajjaj: Es existiert gar kein Friedensprozess. Benjamin Netanjahu hat schon lange vor dem 7. Oktober aufgehört, von der Zweistaatenlösung zu sprechen. Es geht hier nicht um eine Gleichsetzung oder Gleichstellung. Das Gericht kann nur individuelle Fälle behandeln und darüber ein Urteil aussprechen. Deswegen wundere ich mich über diese fast hysterische Reaktion der radikal israelischen Seite.
Wenn jemand verdächtigt wird, Kriegsverbrechen begangen zu haben und wenn es erdrückende Beweismittel auf beiden Seiten gibt, kann nicht unterschieden werden zwischen honorigen Kriegsverbrechern und schrecklichen. Kriegsverbrechen ist Kriegsverbrechen. Anders sollte man das nicht beurteilen. Aber es sind ja erst Anträge für einen Haftbefehl, noch ist nichts genehmigt worden.
Der Terrorangriff der Hamas auf Israel war für die Jüdinnen und Juden eine Zäsur, das schlimmste Massaker seit dem Holocaust. Was war der 7. Oktober für Sie?
Ich brauchte einige Zeit, um zu realisieren, was passiert ist. Als es mir klar wurde, war ich schockiert und erschüttert. Ich bin für die Lösung der Palästinafrage, aber sicher nicht in dieser Art und Weise. Dass viele Zivilisten, die einfach gefeiert haben, getötet wurden, dass man sie als Geiseln genommen hat: Das ist abscheulich und ich habe das immer verurteilt.
Man muss dafür sorgen, dass eine Kommunikation entsteht zwischen Palästinensern und Juden.
Die Stimmen aus palästinensischen Kreisen und auch aus den arabischen Ländern, die diese Gräueltaten verurteilt haben, waren damals ziemlich leise. Hat Sie das gestört?
Ja, ich habe eine Klarheit vermisst. Aber ich will Ihnen das ganz ehrlich sagen: Diese leisen Stimmen, die Art und Weise, wie man reagiert hat, ist durchaus nachvollziehbar. Bedenken Sie, in welch jämmerlichem Zustand die Palästinenser leben. Nicht nur in Gaza und in der Westbank, sondern auch in der Diaspora, in Libanon, in Syrien oder Jordanien. Sie haben eigentlich nur Negatives erfahren. Sowohl von Seiten Israels, aber auch von Seiten ihrer arabischen Bruderstaaten, deren Unterstützung nie mehr als Lippenbekenntnisse waren. Die Situation ist schwierig und man kann die Menschen emotional nicht überfordern, indem man von ihnen verlangt, sie hätten so oder so reagieren müssen.
Kann man wirklich keine gegenseitige Empathie verlangen? Die Anerkennung des Leids des anderen?
Doch, ich verlange das. Und ich bin nicht der Einzige. Ich glaube, gegenseitige Empathie ist möglich, aber nur dann, wenn sie die Möglichkeit haben, die Verhältnisse aus der Distanz zu beurteilen. Ich kann das. Ich bin nicht unmittelbar betroffen. Diese Empathie ist ein wichtiges Kriterium für eine künftige Zusammenarbeit. Aber es erfordert zunächst einmal, dass sich der harte Umgang Israels mit den Palästinensern grundsätzlich ändern muss. Und ausserdem muss man dafür sorgen, dass eine Kommunikation entsteht zwischen Palästinensern und Juden. Diese gibt es so gut wie gar nicht. Sie leben nicht miteinander, sondern nebeneinander. Mit vielen Vorurteilen.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.