Die armenische Stimmbevölkerung hat Regierungschef Nikol Paschinjan und seiner Partei «Bürgervertrag» ein neues Mandat anvertraut. Und dies, obwohl der Hoffnungsträger Paschinjan, der vor drei Jahren dank dem Druck der Strasse an die Macht gekommen ist, eklatante Schwächen, ja sogar Inkompetenz an den Tag gelegt hat. Er gilt vielen als Hauptverantwortlicher für die verheerende Niederlage im Krieg um Berg-Karabach, ja sogar als Verräter, weil er dem Waffenstillstand mit Aserbaidschan zugestimmt hat.
Eine Absage an Kotscharjan
Doch das Votum vom Sonntag war weniger ein Ja zu Paschinjan als ein Nein zu seinem wichtigsten Herausforderer. Dieser heisst Robert Kotscharjan und war zehn Jahre lang – von 1998 bis 2008 – Präsident Armeniens. Kotscharjan verkörpert wie kein anderer die alte Elite, die autoritär regierte und das Land ausplünderte.
Kotscharjan warb im Wahlkampf für sich als erprobten Krisenmanager, als starke Figur, und er versprach, Berg-Karabach sei nicht verloren. Seine Äusserungen und die seiner Gefolgsleute, die zum nationalistischen Lager gehören, liessen aber auch durchblicken, dass sie einen autoritären Staat wünschen, nach dem Vorbild von Viktor Orbans Ungarn oder sogar Wladimir Putins Russland.
So inbrünstig Kotscharjans Anhänger und Anhängerinnen Premier Paschinjan hassen – die Mehrheit der Armenier und Armenierinnen hat kundgetan, dass sie kein Zurück zu den alten Zuständen will. Ausserdem spürt die Bevölkerung im Alltag durchaus einen Effekt von Paschinjans Reformen: Strassen und Wasserversorgung wurden erneuert, die Alltagskorruption ist zurückgegangen.
Eine Rache-Politik droht
Paschinjans populistische Rhetorik verfängt deshalb durchaus: Er hat versprochen, mit einer «stählernen Revolution» mit der alten Elite abzurechnen. Er will eine Diktatur des Rechts und des Volkswillens errichten. Das tönt bedrohlich.
Die Gefahr ist real, dass Paschinjan eine Politik der Rache im Sinn hat und dabei die demokratischen Institutionen untergraben will – angetrieben vom Hass auf seinen alten Gegner Kotscharjan. Denn die beiden Kontrahenten Paschinjan und Kotscharjan haben alte Rechnungen offen. Eine solche Rache-Politik würde die Polarisierung des Landes vertiefen.
Es hängt nun an der Opposition
Ex-Präsident Kotscharjan wiederum will das Wahlresultat nicht anerkennen und spricht von gravierenden Unregelmässigkeiten. Das tönt schon fast ironisch angesichts der Tatsache, dass grobe Verstösse gegen faire und freie Wahlen unter seiner Herrschaft keine Seltenheit waren. Die internationalen Beobachter jedenfalls haben bei dieser Wahl jedenfalls von keinen signifikanten Unregelmässigkeiten berichtet.
Alles hängt jetzt davon ab, ob die Opposition das Wahlresultat anerkennt. Und ob sie den Widerstand gegen Paschinjan und dessen Leute auf die Strasse trägt oder sie auf das Parlament beschränkt. Denn dort wird Kotscharjans «Allianz Armenien» und eine weitere ihm nahestehende Partei künftig rund einen Drittel der Sitze innehaben. Es ist also noch nicht klar, ob die politische Unsicherheit im Land weiter gehen wird oder nicht.