Es ist ein Spagat zwischen tief verwurzelten Prinzipien und realpolitischen Zwängen. Ein Spagat, den man den Grünen gar nicht zutrauen würde. Der Kampf gegen Kernkraft und Atomstrom gehört zur DNA der Partei, ist ein Tabu. Doch angesichts einer Welt, die aus den Fugen geraten ist, stellen die Grünen ideologische Überzeugungen hintenan. Wenigstens kurzfristig.
Eine deutliche Mehrheit der Delegierten schluckt die dicke, fette Kröte und stimmt der Einsatzreserve der beiden süddeutschen AKW Isar 2 und Neckarwestheim 2 bis 15. April 2023 zu. Doch dann sei wirklich Schluss. «Neue Brennstäbe, das wird es mit uns nicht geben», ruft Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang den 800 Delegierten und 1000 Gästen zu und zieht damit die «rote Linie» der Partei.
Zustimmung für Zumutung
Als «persönliche Zumutung» bezeichnet die Bundesumweltministerin Steffi Lemke die Vorstellung, dass Atommeiler über das Jahresende hinaus laufen könnten. «Kein Ausstieg vom Ausstieg, nicht schon wieder», moniert ein regionaler Delegierter verhalten. Doch am Ende gibt es nur leise Kritik.
Kein Vergleich zur tumultösen Delegiertenversammlung der Grünen 1999 in Bielefeld. Vor 22 Jahren war dem grünen Ex-Aussenminister Joschka Fischer noch ein Farbbeutel an den Kopf geflogen, man schimpfte ihn einen «Kriegstreiber» wegen des ersten Kampfeinsatzes der Bundeswehr im Kosovo-Krieg. Heute ist Aussenministerin Annalena Baerbock der Liebling der Partei.
Und Wirtschaftsminister Robert Habeck charmiert die Delegierten, wie er nur kann: «In wahnsinniger Geschwindigkeit hat diese Partei wahnsinnig schwere Entscheidungen getroffen», sagte Habeck. «Auch wir sind einem Stresstest unterworfen und haben Ja gesagt zu der Verantwortung.» Das habe die Partei in den vergangenen Monaten immer wieder bewiesen.
Kurzsichtige grüne Politik
Sich treu bleiben und doch über den eigenen Schatten springen. «Wir machen Politik für die Realität, die da ist, und nicht nur für die, die wir uns gewünscht haben», betont die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang.
Allerdings: Indem die Grünen ihre Position in der Atomkraftdebatte zementieren, erweisen sie Habeck einen Bärendienst. Sein Spielraum im AKW-Streit mit FDP-Chef Christian Lindner ist sehr klein geworden. Denn weder die Energiekrise noch der Ukraine-Krieg werden in sechs Monaten vorbei sein. Die Grünen werden weitere Kröten schlucken müssen, wenn die Ampel-Koalition halten soll.