Zum Inhalt springen

Plattenbausiedlung Lunik IX So lebt es sich im verrufensten Roma-Viertel der Slowakei

Am Rand von Kosice im Osten der Slowakei wohnen rund 6000 Roma in einer Siedlung, die dereinst für 2500 Bewohner erstellt wurde.

Als Aussenstehender fällt man auf in der Plattenbausiedlung Lunik IX. Erwachsene werfen skeptische Blicke, Kinder neugierige.

Geplant wurden die Betonriegel am Stadtrand von Kosice in den 1970er-Jahren. 2500 Menschen sollten hier leben. Armeeangehörige, Polizisten und Roma. Es ist ein Integrationsprojekt, das gescheitert ist.

Einige Kinder kommen hungrig in die Schule.
Autor: Ondrej Ferko Leiter des Schülerchors von Lunik IX

Heute wohnen mehr als doppelt so viele Menschen in Lunik IX. Alle von ihnen sind Roma, ein Drittel sind Kinder. Besonders stolz ist man hier auf die Kinder der lokalen Primarschule. Ihr Chor hat es in die nationale Talentshow im Fernsehen geschafft.

Das sei ein weiter Weg gewesen, sagt Chorleiter Ondrej Ferko. «Die Roma-Kinder gelten zwar als besonders musikalisch, aber die meisten Eltern fördern ihre Kinder nicht. Sie können es nicht. Viele sind arm. Einige Kinder kommen sogar hungrig in die Schule.» Da habe Musikunterricht keine Priorität.

Einsatz für eine bessere Zukunft

Auch Nikola Horvatova ist in Lunik IX zur Schule gegangen. Heute arbeitet die 24-Jährige als Schulassistentin. Sie vermittelt zwischen Roma-Kindern, Roma-Eltern und den Nicht-Roma-Lehrkräften.

Sie wolle helfen, dass die Schülerinnen und Schüler dereinst ein besseres Leben hätten, sagt Horvatova, dass sie – anders als ihre Eltern – nicht auf Sozialhilfe angewiesen seien, dass sie lernten, mit Geld umzugehen.

Die junge Frau Nikola Horvtova.
Legende: Schulassistentin Nikola Horvatova will weg aus Lunik IX. srf/Roman Fillinger

Im Blick der jungen Frau liegt eiserne Entschlossenheit: Sie will weg aus Lunik IX. Auch wenn sie weiss, dass es in der Slowakei für eine Roma wie sie überall hart ist.

Sie erlebe Diskriminierung etwa dann, wenn sie einkaufen gehe, sagt sie. «Ich kann sicher sein, dass der Ladendetektiv hinter mir hergeht, bis ich an der Kasse bezahlt habe.»

Amtlich festgestellte Diskriminierung

Box aufklappen Box zuklappen
Ein Kind vor einem der heruntergekommenen Wohnblöcke in Lunik IX.
Legende: srf/Roman Fillinger

In der Slowakei leben rund eine halbe Million Roma – auch wenn sich nur etwa 100'000 Menschen im Land als Roma bezeichnen. Denn Roma zu sein, ist stigmatisiert – und Angehörige dieser Volksgruppe werden in der Slowakei diskriminiert. Das kritisieren Menschenrechtsorganisationen seit langem. Und kürzlich hat auch die EU-Kommission die Slowakei verklagt : Die Regierung in Bratislava tue zu wenig, um die Ausgrenzung der Roma an den Schulen des Landes zu bekämpfen, heisst es aus Brüssel.

Noch ist Weggehen erst ein Plan, noch wohnt Horvatova bei ihrer Familie. Drei Zimmer müssen für mehr als ein Dutzend Menschen reichen.

Und trotzdem sei das Leben in Lunik IX heute besser als während ihrer Kindheit, betont die junge Frau. «Wir hatten kein fliessendes Wasser, auch keinen Strom. Jetzt haben wir meist beides.»

Nur Vertrauen bringt Verbesserungen

Geht es in Lunik IX um Verbesserungen, fällt immer der Name Marcel Sana. Der 45-Jährige ist in Lunik IX aufgewachsen, hat einen Doktortitel in Sozialarbeit und ist seit zehn Jahren Bürgermeister des Stadtteils.

Eine Abfallmulde vor dem heruntergekommenen Plattenbau.
Legende: Strom und Wasser gibt es hier nur gegen Vorauskasse – dafür kontinuierlich. srf/Roman Fillinger

Die Veränderungen seien nur möglich gewesen, weil er das Vertrauen der Stadtregierung gewonnen habe, betont er. Mit dem Vertrauen sei auch mehr Geld ins Quartier geflossen. Aus der Stadtkasse und aus Fördertöpfen der EU.

Es sind kaum Verbesserungen in Sicht

Box aufklappen Box zuklappen

Orte wie Lunik IX, wo ausschliesslich Roma leben und keine gesellschaftliche Durchmischung stattfindet, sind meist deshalb entstanden, weil man Roma anderswo vertrieben hat. So wurden in Kosice schon vor Jahrzehnten illegale Roma-Siedlungen näher am Stadtzentrum geräumt, die Bewohner wurden nach Lunik IX verdrängt. Gleichzeitig sind mehr und mehr Nicht-Roma – oder auch Roma, denen ein gewisser Aufstieg gelungen ist – aus Lunik IX weggezogen. Der Staat hat wenig gemacht, um diese Ghettoisierung der Roma zu verhindern.

Vieles, was man versuchen könnte, um den Teufelskreis von Armut, Isolation und schlechter Bildung zu durchbrechen, müsste auf lokaler Ebene getan werden. Zum Beispiel könnte man Roma-Kinder in gemischte Schulen integrieren. Doch auf lokaler Ebene ist das Interesse an Roma-Anliegen oft gering. Das sieht man zum Beispiel daran, dass die Slowakei viel EU-Fördergeld, das für eine Verbesserung der Lage der Roma gedacht ist, schlicht nicht abholt. Laut Peter Pollack, dem einzigen slowakischen Roma im Europaparlament, ist es für Lokalpolitiker oft politisch schädlich, sich für Roma-Anliegen einzusetzen. Machen sie das, wird ihnen vorgeworfen, Roma zu bevorzugen.

Damit hat Sana zunächst Schulden getilgt – Stichwort: Vertrauen schaffen. Dann hat er Strassenlaternen und Überwachungskameras installieren lassen, um für mehr Sicherheit zu sorgen.

Verantwortung übernehmen

Der Bürgermeister hat die Bewohner in die Pflicht genommen: Wenn früher einzelne Familien ihre Rechnungen nicht zahlten, wurden Wasser und Strom oft für ganze Blöcke abgestellt.

Heute gibt es immer Wasser und Strom – aber nur für jene, die im Voraus bezahlen. Auch wenn das ganz gut funktioniert, bleibt Lunik IX ein Problemviertel. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Armut gross, soziale Durchmischung inexistent.

Und so hegt sogar der Bürgermeister Pläne, mit seiner Familie dereinst aus Lunik IX wegzuziehen.

Rendez-vous, 20.2.2024, 12:30 Uhr;kesm

Meistgelesene Artikel